Artikel 57 Absatz 6 Unterabsatz 1 Satz 2 der Richtlinie 2014/24/EU begründet einen Rechtsanspruch des Unternehmens, trotz des Vorliegens eines Ausschlussgrundes nicht von einem Vergabeverfahren ausgeschlossen zu werden, wenn es ausreichende Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner Integrität nachgewiesen hat. Zwar hat der öffentliche Auftraggeber einen weiten Beurteilungsspielraum, ob die vom Unternehmen durchgeführten Selbstreinigungsmaßnahmen ausreichend sind. Wenn ein Unternehmen aber ausreichende Selbstreinigungsmaßnahmen
nachgewiesen hat, darf der öffentliche Auftraggeber das Unternehmen trotz des Vorliegens eines Ausschlussgrundes – auch eines zwingenden Ausschlussgrundes – nicht wegen Unzuverlässigkeit von der Teilnahme am Vergabeverfahren ausschließen. Dem öffentlichen Auftraggeber steht diesbezüglich kein Ermessen zu.
Die zwingende Verpflichtung, Selbstreinigungsmaßnahmen zu berücksichtigen, ergibt sich auch aus den betroffenen Grundrechten. Der Ausschluss eines Unternehmens, das ausreichende Maßnahmen zur Selbstreinigung getroffen und damit seine Integrität wieder hergestellt hat, wäre nicht geeignet, die Funktionsfähigkeit der Verwaltung und der öffentlichen Haushalte sowie den fairen Wettbewerb zu schützen oder Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen; der Ausschluss wäre daher in einem solchen Fall nicht verhältnismäßig.
Das Unternehmen hat ein Prüfungsrecht hinsichtlich der von ihm durchgeführten Selbstreinigungsmaßnahmen.
Wie Erwägungsgrund 102 der Richtlinie 2014/24/EU klarstellt, sollen Unternehmen beantragen können, dass die im Hinblick auf ihre etwaige Zulassung zum Vergabeverfahren getroffenen Compliance-Maßnahmen auch tatsächlich geprüft werden. Die Richtlinie stellt es – so ausdrücklich Erwägungsgrund 102 – dabei den Mitgliedstaaten anheim, welche genauen verfahrenstechnischen Bedingungen sie für die Prüfung von Selbstreinigungsmaßnahmen vorsehen. Nach der in § 125 getroffenen Regelung steht dem Unternehmen aber kein abstraktes, von der
Durchführung eines konkreten Vergabeverfahrens unabhängiges Prüfungsrecht gegenüber öffentlichen Auftraggebern zu. Die getroffenen Selbstreinigungsmaßnahmen sind nur im Hinblick auf die Prüfung der Zuverlässigkeit eines Bewerbers oder Bieters, bei dem ein Ausschlussgrund vorliegt, in einem konkreten Vergabeverfahren von Bedeutung.
Es obliegt dem Unternehmen, das trotz des Vorliegens eines Ausschlussgrundes an einem Vergabeverfahren teilnehmen will, nachzuweisen, welche Selbstreinigungsmaßnahmen es vorgenommen hat und dass die vorgenommenen Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner Integrität ausreichend sind. Das Unternehmen trägt die Darlegungs- und Beweislast für eine erfolgreiche Selbstreinigung, da es mit dem ihm zurechenbaren Delikt oder Fehlverhalten die Ursache für die Notwendigkeit einer Selbstreinigung gesetzt hat. Dabei muss das Unternehmen auch
zumindest die Umrisse der den Ausschlussgrund begründenden Straftat bzw. des Fehlverhaltens gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber darlegen, damit der öffentliche Auftraggeber die durchgeführten Selbstreinigungsmaßnahmen gemäß § 125 Absatz 2 unter Berücksichtigung der Schwere und besonderen Umstände der Straftat oder des Fehlverhaltens bewerten kann.
§ 125 Absatz 1 setzt Artikel 57 Absatz 6 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2014/24/EU um und Absatz 2 setzt Artikel 57 Absatz 6 Unterabsatz 3 der Richtlinie 2014/24/EU um. Da es in Deutschland keine durch gerichtliche Entscheidung verhängten Ausschlüsse von Vergabeverfahren gibt, wurde von einer Umsetzung von Artikel 57 Absatz 6 Unterabsatz 4 abgesehen.