Praxisrelevante Themen im neuen Vergaberecht ams newsletter 09/2016

In unserer Reihe „Praxisrelevante Fragestellungen im neuen Vergaberecht“ widmen wir uns jeweils einem streithaften Thema bzw. einer Regelung, um das Bewusstsein für Fallstricke bei Auftraggebern und Bietern zu schärfen und die gebotenen rechtssicheren Vorgehensweisen aufzuzeigen.

Ihre Aufmerksamkeit wollen wir auf die Neuregelung des § 3 Abs. 7 VgV (2016) richten.

Diese Regelung erlangt derzeit hinsichtlich der Vergabe von Architekten- und Ingenieurleistungen auf Basis der HOAI rechtliche Brisanz.

 

  1. Fragestellung:

Sind mehrere HOAI-Leistungen, die für ein einheitliches Objekt oder Bauwerk vergeben werden, für die vergaberechtlichen Schwellenwerte zusammenzurechnen?

Nach der bisherigen Anwendungspraxis war eine Zusammenrechnung nur vorzunehmen, soweit es sich um Leistungen aus dem gleichen HOAI-Leistungsbild handelte. Hinsichtlich dieser Praxis hat die Europäische Kommission (KOM) jedoch inzwischen europarechtliche Bedenken erhoben und ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.

 

  1. Rechtlicher Hintergrund:

§ 3 Abs. 1 VgV (2016) beinhaltet, dass für die Schwellenwerte stets auf den Gesamtwert der vorgesehenen Leistungen abzustellen ist. Dabei ist bei Unterteilung in mehrere Lose im Regelfall auch eine Zusammenrechnung aller Lose vorzunehmen (§ 3 Abs. 7 S. 1 VgV).

Im Hinblick auf Planungsleistungen sind nach der alten, wie auch nach der neuen Fassung der VgV „Sonderregelungen“ vorgesehen.

Nach der alten Fassung musste eine Zusammenrechnung nur erfolgen, soweit sich die (Teil-) Aufträge auf dieselbe freiberufliche Leistung bezogen. Daraus wurde gefolgert, dass eine Zusammenrechnung nicht erfolgen müsse, wenn die Leistungen aus unterschiedlichen Leistungsbildern nach der HOAI stammten (z.B. Gebäudeplanung; Landschaftsplanung; Planung der technischen Ausrüstung). Von derselben Leistung war dagegen auszugehen, wenn die (Teil-) Leistungen lediglich nach unterschiedlichen Leistungsphasen (z.B. Vorplanung, Entwurfs-, Genehmigungs- und Ausführungsplanung) eines einheitlichen Leistungsbildes unterteilt wurden.

§ 3 Abs. 7 S. 3 VgV wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens als „Sonderregelung“ aufgenommen. Danach soll eine Zusammenrechnung bei Planungsleistungen nur erfolgen, soweit es sich um Lose über „gleichartige Leistungen“ handelt.

Aus dieser Vorschrift wird teilweise gefolgert, dass die zur alten Fassung entwickelte Handhabung wieder festgeschrieben worden sei (so etwa Portz, Bayerischer Gemeindetag 2016, 75, 79), was bedeuten würde, dass eine Zusammenrechnung von Planungsleistungen weiterhin unterbleiben könnte, wenn sich diese auf unterschiedliche HOAI-Leistungsbilder beziehen.

Man kann jedoch die Regelung auch dahingehend auslegen, dass gerade keine Bevorzugung von Planungsleistungen geschaffen werden sollte, sondern auch für diese der allgemeine Grundsatz der Zusammenrechnung aller Leistungen gelte. Hierfür spricht die Gesetzesbegründung, wonach § 3 Abs. 7 S. 3 VgV keine eigenständige Bedeutung sondern lediglich klarstellenden Charakter besitze.

Es erscheint deshalb möglich, dass die Vergabekammern und Gerichte künftig § 3 VgV (2016) dergestalt auslegen, dass eine nach HOAI-Leistungsbildern getrennte Bestimmung des Auftragswerts unzulässig ist und eine Zusammenrechnung von Planungsleistungen auch bei unterschiedlichen Leistungsbildern erforderlich sein wird.

Aber auch das Europarecht, insbesondere die RL 2014/24/EU, könnte für eine generelle Zusammenrechnung sprechen, da dort keine Sonderregelung für Planungsleistungen vorgesehen ist.

 

  1. Aktuelles Verfahren der Europäischen Kommission

In dem oben angesprochenen Vertragsverletzungsverfahren der KOM geht es um einen Fall, in dem mehrere Planungsleistungen bei der Sanierung eines Freibads (Objekt- und Tragwerksplanung sowie Planung der technischen Ausstattung) mangels Zusammenrechnung nicht den Schwellenwert erreicht hatten und deshalb nicht ausgeschrieben worden waren. In der von der KOM primär angeführten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.03.2012 (C 574/10) hatte der Gerichtshof eine Pflicht zur Zusammenrechnung getrennt beauftragter Planungsleistungen bejaht. Dabei waren die Architektenleistungen für die Sanierung einer Mehrzweckhalle nach Dringlichkeit in drei Abschnitte unterteilt (Dach, Tragwerk, Beleuchtung) und in unterschiedlichen Haushaltsjahren beauftragt worden. Auftragnehmer war für alle Planungsaufträge das gleiche Architektenbüro. Eine europaweite Ausschreibung unterblieb. Die Schwellenwerte wären nur bei Zusammenrechnung erreicht worden. Der EuGH sah hierin einen Verstoß gegen die europarechtlichen Vergabevorschriften (insb. RL 2014/24/EU). Er verwies auf das Aufteilungs- bzw. Umgehungsverbot und stellte für die Beurteilung der Einheitlichkeit der Leistung auf eine funktionale Betrachtungsweise ab. Ausschlaggebend sei, ob die Leistungen in Bezug auf ihre wirtschaftliche und technische Funktion einen einheitlichen Charakter aufwiesen, was im konkreten Fall bejaht wurde.

Die Bundesregierung verweist hingegen darauf, dass sich die verschiedenen Leistungsbilder nach der HOAI sowohl hinsichtlich der Leistungsinhalte als auch bezüglich der Qualifikation der Planer derart unterscheiden würden, dass nicht von einem einheitlichen Auftrag ausgegangen werden könne. Da sich die KOM dem nicht angeschlossen hat, ist damit zu rechnen, dass das Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH fortgesetzt wird und von diesem über die künftige Notwendigkeit einer Zusammenrechnung neu entschieden wird.

 

  1. Zusammenfassung/Empfehlung

In der Zeit vor einer möglichen EuGH Entscheidung könnten deutsche Gerichte eine sog. europarechtskonforme Auslegung des § 3 Abs. 7 S. 3 VgV (2016) vornehmen. Das kann dazu führen, dass die Gerichte selbst dann davon ausgehen, dass auch Leistungen aus unterschiedlichen HOAI-Leistungsbildern als „gleichartig“ zu qualifizieren sind und eine getrennte Bewertung von Planungsleistungen unzulässig ist, auch wenn sie allein nach deutschem Recht eine andere Auffassung vertreten würden. Dies erscheint deshalb möglich, weil eine solche Trennung – wie bereits oben dargelegt – nicht explizit im Wortlaut des § 3 Abs. 7 VgV angelegt ist.

Für Baumaßnahmen, die u.a. aus europäischen Mitteln gefördert werden, ist zusätzlich zu beachten, dass die zuständigen Prüfbehörden primär einen europarechtlichen Maßstab anlegen. Für deren Prüfung ist deshalb in erster Linie ausschlaggebend, ob die Vergabe in Einklang mit den europäischen Vorgaben erfolgt ist. Ob das deutsche Recht insoweit „Sonderregelungen“ für Planungsleistungen vorsieht oder nicht, ist für die Prüfbehörden zweitrangig. Bei einem möglichen Verstoß gegen die europäischen Vorgaben bestünde dann ein zusätzliches Kostenrisiko.

Diese Risiken lassen sich nur vermeiden, indem für die schwellenwertbezogene Bestimmung des Auftragswerts bereits zum jetzigen Zeitpunkt stets eine Zusammenrechnung aller HOAI-Leistungen vorgenommen wird.