Europäischer Gerichtshof, Az.: C-186/22, Urteil vom 19.10.2023 – 1. Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates in der durch die Verordnung (EU) 2016/2338 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 geänderten Fassung

Okt 19, 2023 | Rechtsprechung

EuGH, Urteil vom 19.10.2023, C-186/22

 

Normen:

Art. 1 Abs. 1; Art. 107 Abs. 1

 

Leitsatz:

1. Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates in der durch die Verordnung (EU) 2016/2338 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Die Verordnung gilt für einen gemischten öffentlichen Dienstleistungsauftrag über multimodale Personenverkehrsdienste, die die Beförderung mit Straßen-, Standseil- und Seilschwebebahnen umfassen, auch dann nicht, wenn es sich bei den Verkehrsdiensten, deren Verwaltung vergeben wird, überwiegend um Schienenverkehrsdienste handelt.

2. Art. 107 Abs. 1 AEUV

ist wie folgt auszulegen:

Die einem internen Betreiber im Rahmen der Direktvergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags über Personenverkehrsdienste von einer zuständigen örtlichen Behörde gewährte Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die auf der Grundlage der Verwaltungskosten berechnet worden ist, die zum einen unter Berücksichtigung der historischen Kosten des vom scheidenden Betreiber erbrachten Dienstes und zum anderen in Bezug auf die Kosten oder Gebühren bestimmt werden, die mit der früheren Vergabe in Zusammenhang stehen oder sich jedenfalls auf marktübliche Parameter beziehen, die für die Gesamtheit der Betreiber des Sektors gelten, stellt keine „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung dar, sofern auf diese Weise Kosten ermittelt werden, die denen entsprechen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen gehabt hätte.

 

Entscheidungstext:

In der Rechtssache C-186/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 7. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2022, in dem Verfahren

Sad Trasporto Locale SpA

gegen

Provincia autonoma di Bolzano,

Beteiligte:

Strutture Trasporto Alto Adige SpA A. G.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič, I. Jarukaitis und D. Gratsias,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Sad Trasporto Locale SpA, vertreten durch G. Greco und M. A. Sandulli, Avvocati,

– der Provincia autonoma di Bolzano, vertreten durch L. Fadanelli, P. Mantini, P. Pignatta, L. Plancker und A. Roilo, Avvocati,

– der Strutture Trasporto Alto Adige SpA A. G., vertreten durch P. Mantini, Avvocato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Messina und F. Tomat als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (ABl. 2007, L 315, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) 2016/2338 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 (ABl. 2016, L 354, S. 22) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1370/2007) und von Art. 107 Abs. 1 AEUV.

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Sad Trasporto Locale SpA und der Provincia autonoma di Bolzano (Autonome Provinz Bozen, Italien) wegen der Direktvergabe (Konzession) der öffentlichen Personenverkehrsdienste auf bestimmten Schienenstrecken und Seilbahnen an einen internen Betreiber, die Strutture Trasporto Alto Adige SpA A. G. (im Folgenden: STA).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung Nr. 1370/2007

3

In den Erwägungsgründen 33 und 36 der Verordnung Nr. 1370/2007 heißt es:

„(33) In seinem [Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans GmbH und Regierungspräsidium Magdeburg (C-280/00, EU:C:2003:415),] …, hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in den Randnummern 87 bis 95 festgestellt, dass Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen keine Begünstigung im Sinne von [Art. 107 AEUV] darstellen, sofern vier kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, jedoch die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung von [Art. 107 Abs. 1 AEUV], stellen die Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen staatliche Beihilfen dar, und es gelten die [Art. 93, 106, 107 und 108 AEUV].

(36) … Alle anderen durch diese Verordnung nicht erfassten Ausgleichsleistungen für die Erbringung öffentlicher Personenverkehrsdienste, die staatliche Beihilfen im Sinne des [Art. 107 Abs. 1 AEUV] beinhalten könnten, sollten den Bestimmungen der [Art. 93, 106, 107 und 108 AEUV] entsprechen, einschließlich aller einschlägigen Auslegungen durch den [Gerichtshof der Europäischen Union] und insbesondere [des Urteils vom 24. Juli 2003, Altmark Trans GmbH und Regierungspräsidium Magdeburg (C-280/00, EU:C:2003:415)]. Bei der Prüfung solcher Fälle sollte die [Europäische] Kommission daher ähnliche Grundsätze anwenden wie die, die in dieser Verordnung oder gegebenenfalls in anderen Rechtsvorschriften für den Bereich der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse enthalten sind.“

4

Art. 1 („Zweck und Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 1370/2007 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1) Zweck dieser Verordnung ist es, festzulegen, wie die zuständigen Behörden unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs tätig werden können, um die Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu gewährleisten, die unter anderem zahlreicher, sicherer, höherwertig oder preisgünstiger sind als diejenigen, die das freie Spiel des Marktes ermöglicht hätte.

Hierzu wird in dieser Verordnung festgelegt, unter welchen Bedingungen die zuständigen Behörden den Betreibern eines öffentlichen Dienstes eine Ausgleichsleistung für die ihnen durch die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen verursachten Kosten und/oder ausschließliche Rechte im Gegenzug für die Erfüllung solcher Verpflichtungen gewähren, wenn sie ihnen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegen oder entsprechende Aufträge vergeben.

(2) Diese Verordnung gilt für den innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs sowie auf der Straße, mit Ausnahme von Verkehrsdiensten, die hauptsächlich aus Gründen historischen Interesses oder zu touristischen Zwecken betrieben werden. Die Mitgliedstaaten können diese Verordnung auf den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen und, unbeschadet der Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten (Seekabotage) [(ABl. 1992, L 364, S. 7)], auf das Meer innerhalb der Hoheitsgewässer anwenden.

…“

5

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 1370/2007 bestimmt in den Buchst. a, e, h, i, j und aa:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a) ‚öffentlicher Personenverkehr‘ Personenbeförderungsleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die für die Allgemeinheit diskriminierungsfrei und fortlaufend erbracht werden;

e) ‚gemeinwirtschaftliche Verpflichtung‘ eine von der zuständigen Behörde festgelegte oder bestimmte Anforderung im Hinblick auf die Sicherstellung von im allgemeinen Interesse liegenden öffentlichen Personenverkehrsdiensten, die der Betreiber unter Berücksichtigung seines eigenen wirtschaftlichen Interesses nicht oder nicht im gleichen Umfang oder nicht zu den gleichen Bedingungen ohne Gegenleistung übernommen hätte;

h) ‚Direktvergabe‘ die Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags an einen bestimmten Betreiber eines öffentlichen Dienstes ohne Durchführung eines vorherigen wettbewerblichen Vergabeverfahrens;

i) ‚öffentlicher Dienstleistungsauftrag‘ einen oder mehrere rechtsverbindliche Akte, die die Übereinkunft zwischen einer zuständigen Behörde und einem Betreiber eines öffentlichen Dienstes bekunden, diesen Betreiber eines öffentlichen Dienstes mit der Verwaltung und Erbringung von öffentlichen Personenverkehrsdiensten zu betrauen, die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unterliegen; gemäß der jeweiligen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten können diese rechtsverbindlichen Akte auch in einer Entscheidung der zuständigen Behörde bestehen:

– die die Form eines Gesetzes oder einer Verwaltungsregelung für den Einzelfall haben kann oder

– die Bedingungen enthält, unter denen die zuständige Behörde diese Dienstleistungen selbst erbringt oder einen internen Betreiber mit der Erbringung dieser Dienstleistungen betraut;

j) ‚interner Betreiber‘ eine rechtlich getrennte Einheit, über die eine zuständige örtliche Behörde – oder im Falle einer Gruppe von Behörden wenigstens eine zuständige örtliche Behörde – eine Kontrolle ausübt, die der Kontrolle über ihre eigenen Dienststellen entspricht;

aa) ‚öffentliche Schienenpersonenverkehrsdienste‘ den öffentlichen Schienenpersonenverkehr mit Ausnahme des Personenverkehrs auf anderen schienengestützten Verkehrsträgern wie Untergrund- oder Straßenbahnen.“

6

Art. 5 („Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge“) der Verordnung Nr. 1370/2007 bestimmt in Abs. 2:

„Sofern dies nicht nach nationalem Recht untersagt ist, kann jede zuständige örtliche Behörde – unabhängig davon, ob es sich dabei um eine einzelne Behörde oder eine Gruppe von Behörden handelt, die integrierte öffentliche Personenverkehrsdienste anbietet – entscheiden, selbst öffentliche Personenverkehrsdienste zu erbringen oder öffentliche Dienstleistungsaufträge direkt an eine rechtlich getrennte Einheit zu vergeben, über die die zuständige örtliche Behörde – oder im Falle einer Gruppe von Behörden wenigstens eine zuständige örtliche Behörde – eine Kontrolle ausübt, die der Kontrolle über ihre eigenen Dienststellen entspricht.

…“

Verordnung (EU) 2016/424

7

Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung (EU) 2016/424 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über Seilbahnen und zur Aufhebung der Richtlinie 2000/9/EG (ABl. 2016, L 81, S. 1) bestimmt in den Nrn. 1, 7 und 9

„Für die Zwecke dieser Verordnung gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

1. ‚Seilbahn‘: ein an seinem Bestimmungsort errichtetes, aus der Infrastruktur und Teilsystemen bestehendes Gesamtsystem, das zum Zweck der Beförderung von Personen entworfen, gebaut, zusammengesetzt und in Betrieb genommen wurde und bei dem die Beförderung durch entlang der Trasse verlaufende Seile erfolgt;

7. ‚Seilschwebebahnen‘: eine Seilbahn, deren Fahrzeuge von einem oder mehreren Seilen getragen und bewegt werden;

9. ‚Standseilbahn‘: eine Seilbahn, deren Fahrzeuge durch ein oder mehrere Seile auf einer Fahrbahn gezogen werden, die auf dem Boden aufliegen oder durch feste Bauwerke gestützt sein kann“.

Italienisches Recht

8

Art. 192 des Decreto legislativo n. 50 – Codice dei contratti pubblici (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 50 – Gesetzbuch über öffentliche Aufträge) vom 18. April 2016 (GURI Nr. 91 vom 19. April 2016 – Supplemento ordinario Nr. 10) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt in Abs. 2:

„Bei der internen Vergabe eines Auftrags über Dienstleistungen, die auf dem Markt unter Wettbewerbsbedingungen verfügbar sind, prüfen die öffentlichen Auftraggeber vorab, ob das Angebot der internen Einheiten im Hinblick auf den Gegenstand und den Wert der Dienstleistung angemessen ist, und erläutern in der Begründung der Vergabeentscheidung, warum nicht auf den Markt zurückgegriffen wird und welche Vorteile die gewählte Art der Verwaltung für die Körperschaft bietet, auch im Hinblick auf die Ziele der allgemeinen Verfügbarkeit und der gesellschaftlichen Teilhabe, der Effizienz, der Wirtschaftlichkeit und der Qualität des Dienstes sowie der optimalen Verwendung öffentlicher Mittel.“

9

Art. 34 des Decreto-legge n. 179/2012 – Ulteriori misure urgenti per la crescita del Paese (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 179/2012 über weitere dringende Maßnahmen für das Wachstum des Landes) vom 18. Oktober 2012 (GURI Nr. 245 vom 19. Oktober 2012 – Supplemento ordinario Nr. 194), das durch die Legge Nr. 221 (Gesetz Nr. 221) vom 17. Dezember 2012 (GURI Nr. 294 vom 18. Dezember 2012 – Supplemento ordinario Nr. 208) mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt wurde, bestimmt in Abs. 20:

„Um die Beachtung des Rechts der Europäischen Union, die Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer, die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung und eine angemessene Unterrichtung der betreffenden Einheiten zu gewährleisten, wird der Dienstleistungsauftrag bei lokalen öffentlichen Dienstleistungen von wirtschaftlichem Interesse auf der Grundlage eines hierzu erstellten Berichts vergeben, der auf der Website der Einheit veröffentlicht wird, die den betreffenden Auftrag vergibt; in dem Bericht wird angegeben, warum der Auftrag vergeben wurde und inwieweit die unionsrechtlichen Voraussetzungen für die gewählte Art der Vergabe erfüllt sind, und der Inhalt der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und des Universaldienstes genau bestimmt, wobei gegebenenfalls die wirtschaftlichen Ausgleichsleistungen angegeben werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Mit Entscheidungen vom 30. Dezember 1991 und vom 15. Juni 2001, die mehrmals verlängert wurden, zuletzt am 19. März 2021, hatte die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Autonome Provinz Bozen, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Sad Trasporto Locale SpA, mit der Verwaltung der öffentlichen Verkehrsdienste der Autonomen Provinz Bozen betraut, zu denen als feste Anlagen u. a. Standseil-, Seilschwebe- und Straßenbahnen gehören.

11

Mit Entscheidung Nr. 243 vom 16. März 2021 vergab sie diese öffentlichen Verkehrsdienste dann für den Zeitraum vom 19. Mai 2021 bis zum 30. April 2030 gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 intern an STA, deren alleinige Anteilseignerin sie ist. Bei STA handelt es sich mithin rechtlich um eine gesonderte Einheit. STA ist aber in erster Linie für die Autonome Provinz Bozen und ausschließlich in deren Gebiet tätig.

12

Die Verkehrsdienste, deren Verwaltung auf diese Weise direkt an STA vergeben wurde, werden überwiegend mittels Standseil- und Straßenbahnen und zu 47 % mittels Seilschwebebahnen erbracht.

13

Die Beklagte des Ausgangsverfahrens billigte mit der Entscheidung Nr. 243 einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag, nach dem sie an STA eine vertragliche Vergütung zu zahlen hat, sowie den Wirtschafts-und Finanzplan betreffend das Vertragsverhältnis mit STA, nach dem die Einnahmen aus Tarifentgelten ihr, etwaige Einkünfte aus anderen Geschäftstätigkeiten im Zusammenhang mit der Erbringung der betreffenden Dienstleistung aber STA zustehen.

14

Mit Entscheidung Nr. 244, die am selben Tag wie die Entscheidung Nr. 243 erlassen wurde, verpflichtete die Beklagte des Ausgangsverfahrens die Klägerin des Ausgangsverfahrens, bis STA damit betraut ist, weiter Verkehrsdienste zu erbringen.

15

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob beim Tribunale Regionale di Giustizia Amministrativa del Trentino Alto Adige, Sezione autonoma di Bolzano (Regionales Verwaltungsgericht für die Autonome Region Trentino Südtirol, Autonome Sektion Bozen, Italien) Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidungen Nrn. 243 und 244 und der damit zusammenhängenden Handlungen, einschließlich des Berichts über die interne Vergabe, des betreffenden Dienstleistungsauftrags und des entsprechenden Wirtschafts- und Finanzplans.

16

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens machte geltend, dass diese Entscheidungen rechtswidrig seien. Auf die öffentlichen Dienstleistungsaufträge, um die es im Ausgangsverfahren gehe, sei Art. 5 Abs. 2 bis 6 der Verordnung Nr. 1370/2007 überhaupt nicht anwendbar. Diese Bestimmung gelte nur für Dienstleistungskonzessionen, die den öffentlichen Personenverkehr mit der Eisenbahn oder anderen schienengestützten Verkehrsträgern und auf der Straße beträfen. Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sei aber ein Dienstleistungsauftrag, bei dem es sich zum einen nicht um eine Konzession handele und der zum anderen Seilschwebebahnverkehrsdienste betreffe. Maßgeblich sei daher das Gesetzbuch über öffentliche Aufträge, insbesondere dessen Art. 192 Abs. 2, nach dem für eine interne Vergabe spezielle Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Insbesondere müsse näher begründet werden, warum es unmöglich sei, eine Ausschreibung durchzuführen, und es müsse dargetan werden, welche Vorteile eine interne Vergabe für die Gebietskörperschaft biete. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall aber nicht erfüllt.

17

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat im weiteren Verfahren dann unter Hinweis auf den 33. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1370/2007 die Frage aufgeworfen, ob die Ausgleichsleistung, die im Rahmen des in Rede stehenden öffentlichen Dienstleistungsauftrags gewährt worden sei, mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen vereinbar sei. Sie hat in diesem Zusammenhang insbesondere geltend gemacht, dass die Höhe der STA gewährten Ausgleichsleistung nicht auf der Grundlage einer Analyse der Kosten bestimmt worden sei, die ein durchschnittliches, gut geführtes und angemessen mit Transportmitteln ausgestattetes Unternehmen bei der Erbringung der geschuldeten Dienste gehabt hätte.

18

Das Tribunale Regionale di Giustizia Amministrativa del Trentino Alto Adige, Sezione autonoma di Bolzano (Regionales Verwaltungsgericht für die Autonome Region Trentino Südtirol, Autonome Sektion Bozen) wies die Klage ab. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens legte dagegen beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Dieses Gericht hat Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1370/2007 und der Bestimmungen des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen.

19

Das vorlegende Gericht fragt sich zum einen, ob die Beförderung mittels Seilschwebebahnen in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1370/2007, wie er in deren Art. 1 Abs. 2 bestimmt ist, fällt, und zum anderen, im Zusammenhang mit der Frage, ob die in dem in Rede stehenden öffentlichen Dienstleistungsauftrag über Personenverkehrsdienste vorgesehene Ausgleichsleistung eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt, für die die Pflicht zur vorherigen Anmeldung von Art. 108 Abs. 3 AEUV gilt, ob die Methode, mit der die Ausgleichsleistung ermittelt wurde, die vierte Voraussetzung gemäß der durch das Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C-280/00, EU:C:2003:415), begründeten Rechtsprechung erfüllt.

20

Der Consiglio di Stato (Staatsrat) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 dahin auszulegen, dass er der Anwendung dieser Verordnung auf den Betrieb multimodaler nationaler und internationaler öffentlicher Personenverkehrsdienste entgegensteht, bei denen zum einen der öffentliche Verkehrsdienst hinsichtlich der Vergabe einheitlicher Art ist und mit Straßenbahnen, Standseilbahnen und Seilbahnen erbracht wird und zum anderen der Schienenverkehr mehr als 50 % des Dienstes ausmacht, der insgesamt und einheitlich an den Betreiber vergeben worden ist?

2. Für den Fall, dass Frage 1 verneint wird: Ist Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 dahin auszulegen, dass er auch bei der Direktvergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags – der den Personenverkehr mit Straßenbahnen umfasst – an einen internen Betreiber eine Überprüfung der rechtlichen Form des Vergaberechtsakts mit der Folge verlangt, dass Rechtsakte, die nicht die Form von Dienstleistungskonzessionen haben, vom Anwendungsbereich des genannten Art. 5 Abs. 2 ausgenommen sind?

3. Für den Fall, dass Frage 2 bejaht wird, wird weiter folgende Frage vorgelegt: Ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 2 der Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe (ABl. 2014, L 94, S. 1) dahin auszulegen, dass die Übertragung des mit der Verwaltung der Dienste verbundenen Betriebsrisikos auf den Auftragnehmer ausgeschlossen sein muss, wenn der Auftrag, der Gegenstand der Vergabe ist, a) auf den Bruttokosten beruht, wobei die Einnahmen dem öffentlichen Auftraggeber zustehen; b) als Betriebseinnahmen zugunsten des Betreibers nur ein vom öffentlichen Auftraggeber gezahltes Entgelt vorsieht, das nach dem Umfang der erbrachten Leistung bemessen wird (unter Ausschluss des Nachfragerisikos); c) dem öffentlichen Auftraggeber das Betriebsrisiko für die Nachfrage (für die Verringerung der Gebühren aufgrund eines Rückgangs des Umfangs des Dienstes über die im Voraus festgelegten Grenzen hinaus), das regulierungsbedingte Risiko (für gesetzliche oder regulatorische Änderungen sowie für die verspätete Erteilung von Genehmigungen und/oder Bescheinigungen durch die zuständigen Stellen), das finanzielle Risiko (für die Nichtzahlung oder verspätete Zahlung der Gebühren und das Risiko für die Nichtanpassung der Gebühren) sowie das Risiko aufgrund höherer Gewalt (das sich aus einer unvorhersehbaren Änderung der Bedingungen für die Erbringung des Dienstes ergibt) überlässt; d) dem Auftragnehmer das Betriebsrisiko des Angebots (aufgrund von Schwankungen der Kosten bei Faktoren, die vom Betreiber nicht kontrolliert werden können – Energie, Rohstoffe, Materialien), das Risiko für die Arbeitsbeziehungen (aufgrund von Schwankungen der Personalkosten gemäß den Tarifverhandlungen), das Managementrisiko (aufgrund einer negativen Dynamik der Betriebskosten infolge fehlerhafter Vorausschätzungen) sowie das Sozial- und Umweltrisiko (aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen während der Ausführung an den für die Erbringung der Dienste funktionalen Gegenständen) überträgt?

4. Schließlich wird folgende Frage vorgelegt: Sind Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 108 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen, dass im Rahmen der Direktvergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags über Personenverkehrsdienste, die von einer zuständigen örtlichen Behörde zugunsten eines internen Betreibers angeordnet wird, eine Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die auf der Grundlage der Verwaltungskosten berechnet wird, die, obgleich sie an vorhersehbare Anforderungen an den Dienst geknüpft sind, zum einen unter Berücksichtigung der historischen Kosten des vom scheidenden Betreiber – dem eine über mehr als zehn Jahre hinaus verlängerte Dienstleistungskonzession erteilt worden war – erbrachten Dienstes und zum anderen in Bezug auf die Kosten oder Gebühren bestimmt werden, die mit der früheren Vergabe in Zusammenhang stehen oder sich jedenfalls auf marktübliche Parameter beziehen, die für die Gesamtheit der Betreiber des Sektors gelten, eine staatliche Beihilfe darstellt, die dem Verfahren der vorherigen Kontrolle nach Art. 108 Abs. 3 AEUV unterliegt?

Zu den Vorlagefragen

Zu Frage 1

21

Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 dahin auszulegen ist, dass er deren Anwendung auf einen gemischten öffentlichen Dienstleistungsauftrag über multimodale Personenverkehrsdienste, die die Beförderung mit Straßen-, Standseil- und Seilschwebebahnen umfassen, auch dann entgegensteht, wenn es sich bei den Verkehrsdiensten, deren Verwaltung vergeben wird, überwiegend um Schienenverkehrsdienste handelt.

22

Nach ständiger Rechtsprechung darf eine Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht dazu führen, dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut der Bestimmung jede praktische Wirksamkeit zu nehmen. Somit kann der Gerichtshof, wenn sich der Sinn einer Bestimmung des Unionsrechts eindeutig aus ihrem Wortlaut ergibt, nicht von diesem Wortlaut abweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2022, VD und SR, C-339/20 und C-397/20, EU:C:2022:703, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Art. 9 der Verordnung Nr. 1370/2007 befreit gemäß der Verordnung gewährte Ausgleichsleistungen von der Pflicht zur vorherigen Anmeldung nach Art. 108 Abs. 3 AEUV. Als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Pflicht zur Anmeldung sind die Verordnung Nr. 1370/2007 und die in ihr vorgesehenen Voraussetzungen daher eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juli 2016, Dilly’s Wellnesshotel, C-493/14, EU:C:2016:577, Rn. 37, und vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C-349/17, EU:C:2019:172, Rn. 60).

24

Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1370/2007, in dem deren Anwendungsbereich geregelt ist, bestimmt, dass die Verordnung für den innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs sowie auf der Straße, mit Ausnahme von Verkehrsdiensten, die hauptsächlich aus Gründen historischen Interesses oder zu touristischen Zwecken betrieben werden, gilt und dass die Mitgliedstaaten die Verordnung auf den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen anwenden können.

25

Erstens ist festzustellen, dass der Begriff „Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs“ in der Verordnung Nr. 1370/2007 nicht definiert wird. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind damit Beförderungsmittel gemeint, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Fahrzeuge auf einem aus einer oder mehreren, parallel angeordneten Schienen bestehenden Fahrweg bewegt werden.

26

Danach fallen Beförderungsmittel wie Seilschwebebahnen nicht unter den Begriff „Personenverkehr mit der Eisenbahn und andere Arten des Schienenverkehrs“. In Art. 3 Nr. 7 der Verordnung 2016/424 ist eine Seilschwebebahn nämlich definiert als eine Seilbahn, deren Fahrzeuge von einem oder mehreren Seilen getragen und bewegt werden.

27

Solche Beförderungsmittel fallen deshalb zweitens auch nicht unter die Beförderung auf der Straße oder auf Binnenschifffahrtswegen, von der in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 ebenfalls die Rede ist.

28

Drittens enthält die Verordnung Nr. 1370/2007 keine Bestimmung, nach der die Verordnung auf gemischte Aufträge anwendbar wäre, die andere Beförderungsmittel als die in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung genannten umfassen. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Schienenverkehr mehr als 50 % des betreffenden Auftrags ausmacht.

29

Viertens ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten die Verordnung Nr. 1370/2007 nach deren Art. 1 Abs. 2 auf den öffentlichen Personenverkehr auf Binnenschifffahrtswegen anwenden können. Da die Möglichkeit der Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnung in deren Art. 1 Abs. 2 somit ausdrücklich vorgesehen ist, ohne dass dort die Beförderung mit Seilschwebebahnen genannt wird, ist bei diesem Beförderungsmittel davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich der Verordnung nicht auf es ausgeweitet werden kann.

30

Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 23), ist Art. 1 Abs. 2 der Verordnung, in dem deren Anwendungsbereich geregelt ist, eng auszulegen.

31

Daher ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1370/2007 dahin auszulegen ist, dass die Verordnung für einen gemischten öffentlichen Dienstleistungsauftrag über multimodale Personenverkehrsdienste, die die Beförderung mit Straßen-, Standseil- und Seilschwebebahnen umfassen, auch dann nicht gilt, wenn es sich bei den Verkehrsdiensten, deren Verwaltung vergeben wird, überwiegend um Schienenverkehrsdienste handelt.

Zu den Fragen 2 und 3

32

In Anbetracht der Antwort auf Frage 1 sind die Fragen 2 und 3 nicht zu beantworten.

Zu Frage 4

33

Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die einem internen Betreiber im Rahmen der Direktvergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags über Personenverkehrsdienste von einer zuständigen örtlichen Behörde gewährte Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die auf der Grundlage der Verwaltungskosten berechnet worden ist, die zum einen unter Berücksichtigung der historischen Kosten des vom scheidenden Betreiber erbrachten Dienstes und zum anderen in Bezug auf die Kosten oder Gebühren bestimmt werden, die mit der früheren Vergabe in Zusammenhang stehen oder sich jedenfalls auf marktübliche Parameter beziehen, die für die Gesamtheit der Betreiber des Sektors gelten, eine „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

34

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese Frage vor dem Hintergrund gestellt werde, dass für das System der dem neuen Betreiber zu gewährenden Ausgleichsleistung insbesondere einheitliche, sektorspezifische Referenzparameter und ein Vergleich mit den Kosten, wie sie sich aus einem auf den Ergebniskonten des scheidenden Betreibers für bestimmte vorausgegangene Jahre basierenden Wirtschafts- und Finanzplan einer simulierten Ausschreibung ergäben, maßgeblich gewesen seien.

35

Nach dem 36. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1370/2007 ist bei einer nicht von der Verordnung erfassten Ausgleichsleistung für die Erbringung öffentlicher Personenverkehrsdienste zu prüfen, ob sie eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt. Wenn ja, gilt für sie die Pflicht zur Anmeldung gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV.

36

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten Maßnahmen gleich welcher Art, die mittelbar oder unmittelbar Unternehmen begünstigen können oder bei denen davon auszugehen ist, dass mit ihnen ein wirtschaftlicher Vorteil gewährt wird, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbedingungen, d. h. ohne einen Eingriff des Staates, nicht hätte erhalten können, als staatliche Beihilfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Januar 2022, Sātiņi-S, C-238/20, EU:C:2022:57, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Nach dem Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C-280/00, EU:C:2003:415), ist eine Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aber nicht als staatliche Beihilfe zu qualifizieren, wenn vier Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens muss das Unternehmen, das einen Ausgleich erhält, der dem Gegenwert der Leistungen entspricht, die für die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erbracht werden, tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein. Zweitens müssen die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufgestellt worden sein. Drittens darf der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken. Entsprechend muss der Ausgleich, wenn die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut werden soll, nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, viertens auf der Grundlage einer Analyse der Kosten bestimmt werden, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen gehabt hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg, C-280/00, EU:C:2003:415, Rn. 89, 90, 92 und 93).

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Das vorlegende Gericht möchte mit Frage 4 insbesondere wissen, ob die Berechnung einer im Rahmen eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags über Personenverkehrsdienste gewährten Ausgleichsleistung die vierte der in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen erfüllt, wenn bei ihr die Kosten und Einnahmen des scheidenden Betreibers und die für sämtliche Betreiber des betreffenden Sektors geltenden Standardmarktparameter zugrunde gelegt werden. Das vorlegende Gericht bezweifelt nämlich, dass sich die Kosten, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, anhand dieser Kriterien ermitteln lassen.

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Was erstens die „Standardmarktparameter“ angeht, ist festzustellen, dass eine Methode, die angewandt werden kann, um festzustellen, ob diese vierte Voraussetzung erfüllt ist, darin bestehen kann, bei der Berechnung der Ausgleichsleistung, die einem Unternehmen zu gewähren ist, an das ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag vergeben wird, die durchschnittlichen Kosten der Unternehmen, die seit mehreren Jahren auf einem Markt, der dem Wettbewerb offensteht, einen Dienst anbieten, der in jeder Hinsicht mit dem öffentlichen Dienst, um den es im Ausgangsverfahren geht, vergleichbar ist, die Einnahmen, die von diesen Unternehmen durch die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erzielt worden sind, und gegebenenfalls die Gewinne, die sie damit erzielt haben, zugrunde zu legen. Es kann nämlich davon ausgegangen werden, dass mit einer solchen Berechnung die Kosten ermittelt werden können, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen gehabt hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn zu berücksichtigen sind, den das Unternehmen bei einer solchen Tätigkeit erwarten konnte.

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Damit eine solche Methode angewandt werden kann, muss allerdings zunächst geprüft werden, ob die Zahl der auf dem Markt tätigen Unternehmen, die auf diese Weise berücksichtigt werden, hinreichend aussagekräftig ist, so dass ein solcher Durchschnitt als statistisch robust und damit repräsentativ für den Standard der vierten Voraussetzung gemäß dem Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C-280/00, EU:C:2003:415), angesehen werden kann. Die besondere Situation eines einzelnen Unternehmens darf nicht zu stark ins Gewicht fallen.

41

Außerdem dürfen bei einer solchen Berechnung nur Unternehmen berücksichtigt werden, die in der Lage sind, die betreffenden gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sofort zu erfüllen, so dass bei ihnen davon ausgegangen werden kann, dass sie so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet sind, dass sie den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen können.

42

Die Dienstleistung, die von diesen Unternehmen angeboten wird, muss zwar mit dem betreffenden öffentlichen Dienst vergleichbar sein. In Fällen, in denen es um die Vergabe multimodaler öffentlicher Personenverkehrsdienste geht, schließt dies aber nicht aus, dass die Kosten, die ein durchschnittliches, gut geführtes und angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattetes Unternehmen gehabt hätte, für die einzelnen Bestandteile der multimodalen Verkehrsdienste in einem ersten Schritt jeweils gesondert ermittelt und dann in einem zweiten Schritt zusammengerechnet werden. Allerdings müssen dabei gegebenenfalls etwaige eindeutig identifizierbare Synergie-Effekte der gemeinsamen Verwaltung dieser einzelnen Bestandteile ordnungsgemäß berücksichtigt werden.

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Das vorlegende Gericht wird daher nach Maßgabe dieser Grundsätze zu prüfen haben, ob die Standardmarktparameter, die im vorliegenden Fall zugrunde gelegt wurden, dieser Methode entsprechen.

44

Was zweitens die Frage angeht, ob die Kosten des von dem scheidenden Betreiber erbrachten Dienstes zugrunde gelegt werden können, ist festzustellen, dass das Kriterium des „durchschnittlichen, gut geführten und angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestatteten Unternehmens“ eine Berechnung anhand der historischen Kosten des vom scheidenden Betreiber erbrachten Dienstes oder der Kosten der vorherigen Vergabe als solches nicht ausschließt. Der scheidende Betreiber muss aber nach den üblichen Methoden der Rechnungs- und Finanzprüfung als durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen angesehen werden können.

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Auf Frage 4 ist daher zu antworten, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die einem internen Betreiber im Rahmen der Direktvergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags über Personenverkehrsdienste von einer zuständigen örtlichen Behörde gewährte Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die auf der Grundlage der Verwaltungskosten berechnet worden ist, die zum einen unter Berücksichtigung der historischen Kosten des vom scheidenden Betreiber erbrachten Dienstes und zum anderen in Bezug auf die Kosten oder Gebühren bestimmt werden, die mit der früheren Vergabe in Zusammenhang stehen oder sich jedenfalls auf marktübliche Parameter beziehen, die für die Gesamtheit der Betreiber des Sektors gelten, keine „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, sofern auf diese Weise Kosten ermittelt werden, die denen entsprechen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen gehabt hätte.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates in der durch die Verordnung (EU) 2016/2338 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 geänderten Fassung

ist wie folgt auszulegen:

Die Verordnung gilt für einen gemischten öffentlichen Dienstleistungsauftrag über multimodale Personenverkehrsdienste, die die Beförderung mit Straßen-, Standseil- und Seilschwebebahnen umfassen, auch dann nicht, wenn es sich bei den Verkehrsdiensten, deren Verwaltung vergeben wird, überwiegend um Schienenverkehrsdienste handelt.

2. Art. 107 Abs. 1 AEUV

ist wie folgt auszulegen:

Die einem internen Betreiber im Rahmen der Direktvergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags über Personenverkehrsdienste von einer zuständigen örtlichen Behörde gewährte Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die auf der Grundlage der Verwaltungskosten berechnet worden ist, die zum einen unter Berücksichtigung der historischen Kosten des vom scheidenden Betreiber erbrachten Dienstes und zum anderen in Bezug auf die Kosten oder Gebühren bestimmt werden, die mit der früheren Vergabe in Zusammenhang stehen oder sich jedenfalls auf marktübliche Parameter beziehen, die für die Gesamtheit der Betreiber des Sektors gelten, stellt keine „staatliche Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung dar, sofern auf diese Weise Kosten ermittelt werden, die denen entsprechen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen gehabt hätte.

Unterschriften