Europäischer Gerichtshof, Az.: C – 545 / 21, Urteil vom 08.06.2023 – Auslegung von Art. 2 Nr. 7 und Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999

Jun 8, 2023 | Rechtsprechung

EuGH, Urteil vom 08.06.2023, C – 545 / 21

Normen:

Art. 2 Nr. 7; Art. 98 Abs. 1

Leitsatz (amtlich):

1. Art. 2 Nr. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung Verhaltensweisen erfasst, die als „Bestechungshandlungen“ eingestuft werden können, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfolgen, das die Durchführung von Arbeiten zum Gegenstand hat, die von einem Strukturfonds der Union mitfinanziert werden, und wegen denen ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eingeleitet wurde, auch wenn nicht bewiesen ist, dass diese Verhaltensweisen einen tatsächlichen Einfluss auf das Verfahren zur Auswahl des Bieters gehabt haben, und kein tatsächlicher Schaden für den Unionshaushalt festgestellt wurde.

2. Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006

ist dahin auszulegen, dass

er die Mitgliedstaaten im Fall einer „Unregelmäßigkeit“, wie sie in Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung definiert wird, verpflichtet, für die Bestimmung der anwendbaren finanziellen Berichtigung eine Einzelfallprüfung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen, wobei u. a. die Art und der Schweregrad der festgestellten Unregelmäßigkeiten sowie ihre finanziellen Auswirkungen für den betreffenden Fonds zu berücksichtigen sind.

 

Entscheidungstext:

In der Rechtssache C-545/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) mit Entscheidung vom 4. August 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2021, in dem Verfahren

Azienda Nazionale Autonoma Strade SpA (ANAS)

gegen

Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter), N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Azienda Nazionale Autonoma Strade SpA (ANAS), vertreten durch R. Bifulco, P. Pittori, und E. Scotti, Avvocati,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. Di Giorgio, Avvocato dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro, P. Rossi und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Anhang zum Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1), von Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25), von Art. 27 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 1828/2006 der Kommission vom 8. Dezember 2006 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1083/2006 und der Verordnung (EG) Nr. 1080/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ABl. 2006, L 371, S. 1), von Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) und von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Azienda Nazionale Autonoma Autostrade SpA (ANAS) und dem Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (Ministerium für Infrastruktur und Verkehr, Italien) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung dieses Ministeriums, mit der die Rückforderung der Beträge angeordnet wurde, die ANAS in Durchführung eines mit dem Beschluss C(2007) 6318 der Kommission vom 7. Dezember 2007, zuletzt geändert durch den Beschluss C(2016) 6409 der Kommission vom 13. Oktober 2016, genehmigten operationellen Programms gezahlt worden waren, das einen Auftrag für die Durchführung von Straßenarbeiten umfasste, die vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) mitfinanziert wurden.

Unionsrecht

Verordnung Nr. 2988/95

3

Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt:

„Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Europäischen] Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“

4

In Art. 4 dieser Verordnung heißt es:

„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils

– durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;

(2) Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.

(3) Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.

(4) Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“

5

In Art. 5 dieser Verordnung werden die verwaltungsrechtlichen Sanktionen aufgezählt, die bei vorsätzlich begangenen oder durch Fahrlässigkeit verursachten Unregelmäßigkeiten verhängt werden können.

Verordnung Nr. 1083/2006

6

Die Verordnung Nr. 1083/2006 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2014 durch die Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 320) aufgehoben. In Anbetracht des für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkts unterliegt der Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin der Verordnung Nr. 1083/2006. Art. 2 Nrn. 4 und 7 dieser Verordnung sah vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

4. ,Begünstigter‘ einen Wirtschaftsbeteiligten oder eine Einrichtung bzw. ein Unternehmen des öffentlichen oder privaten Rechts, die mit der Einleitung oder der Einleitung und Durchführung der Vorhaben betraut sind. …

7. ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste“.

7

Nach Art. 60 Buchst. a dieser Verordnung war die Verwaltungsbehörde verantwortlich dafür, „sicherzustellen, dass die zu finanzierenden Vorhaben nach den für das operationelle Programm geltenden Kriterien ausgewählt werden und während ihrer Durchführung stets den geltenden gemeinschaftlichen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen“.

8

Art. 98 („Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten“) dieser Verordnung bestimmte:

„(1) Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen.

(2) Der Mitgliedstaat nimmt die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Die vom Mitgliedstaat vorgenommenen Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den dem Fonds entstandenen finanziellen Verlust.

…“

Verordnung Nr. 1828/2006

9

Nach Art. 27 Buchst. a der Verordnung Nr. 1828/2006 ist „Wirtschaftsteilnehmer“ „jede natürliche oder juristische Person sowie jede andere Einrichtung, die an der Durchführung von Interventionen aus den Fonds beteiligt ist, ausgenommen Mitgliedstaaten, die in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse handeln“. Buchst. c dieses Artikels definiert „Betrugsverdacht“ als eine „Unregelmäßigkeit, aufgrund deren in dem betreffenden Mitgliedstaat ein Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren eingeleitet wird, um festzustellen, ob ein vorsätzliches Handeln, insbesondere Betrug im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a des [SFI-]Übereinkommens … vorliegt“.

Richtlinie 2004/18

10

Art. 2 („Grundsätze für die Vergabe von Aufträgen“) der Richtlinie 2004/18 sieht vor:

„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“

11

In Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie heißt es:

„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

d) [der] im Rahmen [seiner] beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde.“

Leitlinien von 2013

12

Art. 2 des Beschlusses C(2013) 9527 final der Kommission vom 19. Dezember 2013 zur Festlegung und Genehmigung der Leitlinien für die Festsetzung von Finanzkorrekturen, die die Kommission bei Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge auf von der EU im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung finanzierte Ausgaben anwendet (im Folgenden: Leitlinien von 2013), bestimmt, dass „[d]ie im Anhang dargelegten Leitlinien … von der Kommission bei Finanzkorrekturen im Zusammenhang mit Unregelmäßigkeiten anzuwenden [sind], die nach dem Datum der Annahme dieses Beschlusses festgestellt werden“.

13

Unter Punkt 1.3 des Anhangs der Leitlinien von 2013 heißt es:

„In diesen Leitlinien werden Korrektursätze in Höhe von 5 %, 10 %, 25 % und 100 % vorgeschlagen, die auf die Ausgaben im Rahmen eines Auftrags angewendet werden. Sie tragen der Schwere der Unregelmäßigkeit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung. Die Korrektursätze kommen zum Einsatz, wenn die finanziellen Auswirkungen auf den fraglichen Auftrag nicht genau beziffert werden können.

Die Schwere einer Unregelmäßigkeit im Zusammenhang mit dem Verstoß gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge und die damit verbundenen finanziellen Folgen für den EU-Haushalt werden anhand folgender Faktoren geprüft: Ausmaß des Wettbewerbs, Transparenz und Gleichbehandlung. Wenn der betreffende Verstoß abschreckende Wirkung auf potenzielle Bieter hat oder der Verstoß zur Vergabe des Auftrags an einen anderen Bieter als denjenigen führt, der den Vertrag hätte erhalten sollen, so ist dies ein deutlicher Anhaltspunkt für einen schwerwiegenden Verstoß.

In den schwerwiegendsten Fällen – wenn die Unregelmäßigkeit bestimmte Bieter/Bewerber begünstigt oder wenn ein zuständiges Gericht- oder eine Behörde einen Betrug im Zusammenhang mit der Unregelmäßigkeit nachgewiesen hat – kann eine Finanzkorrektur in Höhe von 100 % vorgenommen werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

Mit dem Beschluss C(2007) 6318 vom 7. Dezember 2007 genehmigte die Europäische Kommission das nationale operationelle Programm „Netze und Mobilität“ 2007-2013. ANAS wurde als Begünstigter dieses Programms im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 1083/2006 eine Finanzierung u. a. für die Durchführung eines Projekts zur Modernisierung einer Straße gewährt.

15

Zu diesem Zweck leitete ANAS in ihrer Eigenschaft als öffentlicher Auftraggeber eine Ausschreibung im nicht öffentlichen Verfahren ein und wies dabei darauf hin, dass der öffentliche Bauauftrag in Anwendung des Kriteriums des wirtschaftlich günstigsten Angebots vergeben würde. Am Ende dieses Verfahrens wurde dieser Auftrag mit Entscheidung vom 8. August 2012 an einen vorübergehenden Zusammenschluss von Unternehmen vergeben, zu denen die Aleandri SpA gehörte. Die Bauarbeiten wurden abgeschlossen und die Straße für den Verkehr freigegeben.

16

Nachdem das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr von einer strafrechtlichen Untersuchung Kenntnis erlangt hatte, die ein potenzielles System der Bestechung mit Beteiligung von Beamten von ANAS ans Licht brachte, ordnete es mit Entscheidung vom 10. Juni 2020 die Rückforderung der im Rahmen dieses Programms bereits an ANAS gezahlten Beträge an. Außerdem erklärte es, dass der noch nicht ausgezahlte Restbetrag nicht zu zahlen sei, da davon auszugehen sei, dass es bei der Vergabe des fraglichen Auftrags zu einer Unregelmäßigkeit betrügerischer Art im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 sowie der Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 2988/95 gekommen sei.

17

Diese Entscheidung wurde u. a. auf die Erhebung einer Anklage gegen drei Beamte von ANAS gestützt, von denen zwei Mitglieder des aus fünf Mitgliedern bestehenden Vergabeausschusses waren. Ihnen wird vorgeworfen, Geldbeträge von Aleandri als Gegenleistung für Begünstigungshandlungen während des Ausschreibungsverfahrens angenommen zu haben. Gegen den gesetzlichen Vertreter von Aleandri und diese Gesellschaft als solche laufen noch Strafverfahren wegen Bestechung.

18

ANAS erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien), dem vorlegenden Gericht. Sie trägt vor, dass sie nicht verurteilt worden sei und dass ihr kein fehlerhaftes Verhalten der Mitglieder des Vergabeausschusses entgegengehalten werden könne. Außerdem bestehe zwischen der Unregelmäßigkeit oder dem mutmaßlichen Betrug und den getätigten Ausgaben kein Zusammenhang, da die aus dem Gesamthaushalt der Union finanzierten Arbeiten tatsächlich und ordnungsgemäß durchgeführt worden seien. Es sei auch nicht erwiesen, dass Aleandri den in Rede stehenden öffentlichen Auftrag rechtswidrig erlangt habe.

19

Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass die einzige während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ausschreibungsverfahrens begangene Unregelmäßigkeit, die teilweise bewiesen sei, im Verhalten des gesetzlichen Vertreters von Aleandri bestehe, das darauf abgezielt habe, den Ausgang dieses Verfahrens zu beeinflussen, und das unter die Straftat der Bestechung falle. Es stellt allerdings klar, dass das Strafverfahren gegen diesen Vertreter noch nicht abgeschlossen sei. Was ANAS betreffe, habe ihre Leiterin von zwei Beamten, die im Vergabeausschuss gesessen hätten und von denen einer dessen Vorsitzender gewesen sei, verlangt, Aleandri zu begünstigen. Jedoch habe in dem Strafverfahren weder festgestellt werden können, ob diese Beamten diesen Bieter tatsächlich begünstigt hätten, noch, ob der Auftrag ohne eine solche Intervention an einen Mitbewerber von Aleandri vergeben worden wäre.

20

Das vorlegende Gericht ist daher der Auffassung, dass es trotz Verdachtsmomenten – selbst inzidenter – nicht entscheiden könne, dass der Auftrag wegen des Verhaltens des Vertreters von Aleandri rechtswidrig an diese vergeben worden sei. Der Ablauf des Vergabeverfahrens lasse nicht den Schluss zu, dass das von Aleandri getragene technische Vorhaben nicht die erhaltene Bewertung verdient habe oder dass der Vergabeausschuss andere Kriterien als die in der Ausschreibung genannten angewandt habe. Die im Jahr 2012 eingeleitete Ausschreibung sei durch das Decreto legislativo Nr. 163/2006 geregelt gewesen, dessen Art. 38 Abs. 1 Buchst. c und f keine Ausschlussklausel in Bezug auf einen Wirtschaftsteilnehmer vorsehe, der versucht habe, den Ausgang eines solchen Verfahrens zu beeinflussen.

21

Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind Art. 70 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1083/2006, Art. 27 Buchst. c der Verordnung Nr. 1828/2006, Art. 1 des SFI-Übereinkommens, Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2017/1371 dahin auszulegen, dass Verhaltensweisen, die abstrakt geeignet sind, einen Wirtschaftsteilnehmer in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu bevorzugen, stets unter den Begriff „Unregelmäßigkeit“ oder „Betrug“ fallen und sie daher die Rechtsgrundlage für die Rückforderung des Zuschusses darstellen, auch wenn nicht vollständig bewiesen ist, dass diese Verhaltensweisen tatsächlich verwirklicht wurden, oder nicht vollständig bewiesen ist, dass sie für die Auswahl des Empfängers maßgeblich waren?

2. Steht Art. 45 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 einer Vorschrift wie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Decreto legislativo Nr. 163/2006 entgegen, der es nicht gestattet, von der Ausschreibung den Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, der versucht hat, auf den Entscheidungsprozess des öffentlichen Auftraggebers Einfluss zu nehmen, insbesondere wenn der Versuch in der Bestechung einiger Mitglieder des Vergabeausschusses bestanden hat?

3. Falls eine der vorherigen Fragen bejaht wird oder beide bejaht werden: Sind die oben genannten Vorschriften dahin auszulegen, dass sie immer die Rückforderung des Zuschusses durch den Mitgliedstaat und die finanzielle Berichtigung durch die Kommission zu 100 % verlangen, obwohl diese Zuschüsse jedenfalls für den Zweck, für den sie bestimmt waren, und für ein Werk verwendet wurden, das für eine europäische Finanzierung in Betracht kam und tatsächlich realisiert wurde?

4. Falls die dritte Frage verneint wird, d. h., dahin beantwortet wird, dass keine Rückforderung des Zuschusses bzw. keine finanzielle Berichtigung zu 100 % verlangt wird: Gestatten die in der ersten Frage genannten Vorschriften und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die Rückforderung des Zuschusses und die finanzielle Berichtigung unter Berücksichtigung des dem Gesamthaushalt der Europäischen Union tatsächlich entstandenen finanziellen Schadens anzuordnen? Insbesondere: Können in einer Situation wie der im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden die „finanziellen Auswirkungen“ im Sinne von Art. 99 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1083/2006 durch Anwendung der Kriterien, die in der Tabelle in Abschnitt 2 des Anhangs der Leitlinien von 2013 genannt werden, pauschal festgelegt werden?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

22

Vorab ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Hinblick auf eine zweckdienliche Antwort an das vorlegende Gericht veranlasst sein kann, unionsrechtliche Vorschriften auszulegen, die das nationale Gericht in seinen Fragen nicht angeführt hat, indem er aus der Begründung der Vorlageentscheidung diejenigen Elemente des Unionsrechts herausarbeitet, die angesichts des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 1990, SARPP, C-241/89, EU:C:1990:459, Rn. 8, vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C-74/16, EU:C:2017:496, Rn. 36, und vom 2. März 2023, Åklagarmyndigheten, C-666/21, EU:C:2023:149, Rn. 22).

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Zweitens ist festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen keine Angabe enthält, die es erlaubt, das Vorliegen eines Betrugs für gegeben zu halten. Da Strafverfahren immer noch laufen, um zu prüfen, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt als „Bestechungshandlungen“ eingestuft werden kann, können die betreffenden Vorgänge nämlich in diesem Stadium nur einen „Betrugsverdacht“ im Sinne von Art. 27 Buchst. c der Verordnung Nr. 1828/2006 darstellen, d. h. eine Unregelmäßigkeit, aufgrund deren in dem betreffenden Mitgliedstaat ein Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist, um festzustellen, ob ein vorsätzliches Handeln vorliegt.

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Drittens ist, soweit das vorlegende Gericht die Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Rückforderung der Beträge prüfen muss, die an ANAS als „Begünstigte“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 1083/2006 des vom EFRE mitfinanzierten Programms gezahlt wurden, Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung auszulegen, der den Begriff „Unregelmäßigkeit“ betrifft, auf den sich diese Entscheidung insbesondere stützt.

25

Wie der Generalanwalt in Nr. 18 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, umfasst dieser Begriff den engeren Begriff „Betrugsverdacht“ im Sinne von Art. 27 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1828/2006.

26

Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass er Verhaltensweisen erfasst, die als „Bestechungshandlungen“ eingestuft werden können, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfolgen, das die Durchführung von Arbeiten zum Gegenstand hat, die von einem Strukturfonds der Union mitfinanziert werden, und wegen denen ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eingeleitet wurde, auch wenn nicht bewiesen ist, dass diese Verhaltensweisen einen tatsächlichen Einfluss auf das Verfahren zur Auswahl des Bieters gehabt haben, und kein tatsächlicher Schaden für den Unionshaushalt festgestellt wurde.

27

Der Begriff „Unregelmäßigkeit“ wird in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 und mit ähnlichem Wortlaut u. a. in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 definiert als jeder Verstoß gegen eine Bestimmung des Unionsrechts als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat bzw. haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.

28

Da dieser Begriff zu einer Regelung gehört, die die ordnungsgemäße Verwaltung der Finanzmittel der Union und den Schutz ihrer finanziellen Interessen gewährleisten soll, ist er gemäß dem mit der Verordnung Nr. 1083/2006 verfolgten Ziel, das darin besteht, die ordnungsgemäße und effiziente Verwendung der Strukturfonds zu gewährleisten, um die finanziellen Interessen der Union zu schützen, einheitlich und weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C-743/18, EU:C:2020:767, Rn. 59 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Das Vorliegen einer „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 setzt die Erfüllung dreier Kriterien voraus, nämlich, dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, dass dieser Verstoß auf einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers beruht und dass dem Unionshaushalt ein tatsächlicher oder potenzieller Schaden entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C-743/18, EU:C:2020:767, Rn. 51).

30

Was die erste Voraussetzung betrifft, werden nicht nur Verstöße gegen Vorschriften des Unionsrechts als solche erfasst, sondern auch Verstöße gegen Vorschriften des nationalen Rechts, die für die von den Strukturfonds der Union geförderten Vorhaben gelten und auf diese Weise dazu beitragen, die ordnungsgemäße Umsetzung des Unionsrechts im Bereich der Verwaltung von Vorhaben, die von diesen Fonds gefördert werden, sicherzustellen. So ist gemäß Art. 60 Buchst. a der Verordnung Nr. 1083/2006 die zuständige Verwaltungsbehörde verpflichtet, sicherzustellen, dass die für eine Finanzierung ausgewählten Vorhaben während ihrer Durchführung stets sowohl den geltenden unionsrechtlichen als auch den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C-743/18, EU:C:2020:767, Rn. 52 und 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Die Union ist daher zur Finanzierung von Maßnahmen aus ihren Fonds nur insoweit berufen, als die betreffenden Maßnahmen in vollständigem Einklang u. a. mit den Grundsätzen und Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge durchgeführt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juli 2016, Wroc?aw – Miasto na prawach powiatu, C-406/14, EU:C:2016:562, Rn. 43, sowie vom 6. Dezember 2017, Compania Na?ional? de Administrare a Infrastructurii Rutiere, C-408/16, EU:C:2017:940, Rn. 57), insbesondere mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter und dem Grundsatz der Transparenz, die in Art. 2 der Richtlinie 2004/18 gewährleistet werden.

32

Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Bieter verlangt, dass die an einer öffentlichen Ausschreibung interessierten Wirtschaftsteilnehmer bei der Abfassung ihrer Angebote die gleichen Chancen haben müssen, dass sie genau erkennen können, welche Bedingungen sie in dem Verfahren zu beachten haben, und dass sie die Gewissheit haben können, dass für alle Wettbewerber die gleichen Bedingungen gelten (Urteil vom 14. Dezember 2016, Connexxion Taxi Services, C-171/15, EU:C:2016:948, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem müssen die Bieter sowohl zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Angebote vorbereiten, als auch zu dem Zeitpunkt, zu dem diese vom öffentlichen Auftraggeber beurteilt werden, gleich behandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Michaniki, C-213/07, EU:C:2008:731, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Der Grundsatz der Transparenz hat hauptsächlich zum Ziel, sicherzustellen, dass keine Gefahr von Begünstigung oder Willkür seitens des Auftraggebers besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, Irgita, C-285/18, EU:C:2019:829, Rn. 55).

34

Vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vornehmen muss, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben hervor, dass im Ausgangsverfahren unter Berücksichtigung der Anschuldigungen, es habe Bestechungshandlungen gegeben, die darauf abgezielt hätten, den Entscheidungsprozess zur Vergabe des in Rede stehenden öffentlichen Auftrags zu beeinflussen, nicht ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte Mitglieder des Vergabeausschusses von ANAS einen der Bieter begünstigt und seine Mitbewerber diskriminiert haben und somit die in Art. 2 der Richtlinie 2004/18 gewährleisteten Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung der Bieter missachtet haben.

35

Was das zweite Tatbestandsmerkmal der „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 betrifft, nämlich dass eine solche Unregelmäßigkeit auf eine Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers zurückgeht, definiert Art. 27 Buchst. a der Verordnung Nr. 1828/2006 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 1083/2006 einen „Wirtschaftsteilnehmer“ als jede natürliche oder juristische Person sowie jede andere Einrichtung, die an der Durchführung von Interventionen aus den Fonds beteiligt ist, ausgenommen Mitgliedstaaten, die in Ausübung ihrer hoheitlichen Befugnisse handeln.

36

In Anbetracht dieser Definition bestehen kaum Zweifel, dass ANAS in ihrer Eigenschaft als „Begünstigte“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 1083/2006 des betreffenden Fonds, die das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags als Auftraggeberin organisiert hat, einen Wirtschaftsteilnehmer darstellt.

37

Insoweit ist klarzustellen, dass weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit des beteiligten Wirtschaftsteilnehmers nachgewiesen werden müssen, um eine Handlung oder Unterlassung, die einen Verstoß gegen das Unionsrecht oder das anwendbare nationale Recht begründet, als „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 ansehen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C-743/18, EU:C:2020:767, Rn. 65).

38

Was das dritte Tatbestandsmerkmal der „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieses Art. 2 Nr. 7 betrifft, nämlich dass der Verstoß gegen das Unionsrecht oder das nationale Recht durch einen Wirtschaftsteilnehmer einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat oder haben würde, ist hervorzuheben, wie dies u. a. aus der Wendung „bewirkt haben würde“ hervorgeht, dass dieses Tatbestandsmerkmal nicht den Nachweis einer konkreten finanziellen Auswirkung auf den Haushalt der Union verlangt. Ein Verstoß gegen die anwendbaren Vorschriften stellt nämlich eine Unregelmäßigkeit im Sinne dieser Bestimmung dar, soweit nicht ausgeschlossen werden kann, dass dieser Verstoß Auswirkungen auf den Haushalt des betreffenden Fonds haben konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2017, Compania Na?ional? de Administrare a Infrastructurii Rutiere, C-408/16, EU:C:2017:940, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Somit ist festzustellen, dass Verhaltensweisen, die als „Bestechungshandlungen, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfolgen“, eingestuft werden können, ihrem Wesen nach die Vergabe dieses Auftrags beeinflussen können. Infolgedessen kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Verhaltensweisen eine Auswirkung auf den Haushalt des betreffenden Fonds haben können.

40

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung Verhaltensweisen erfasst, die als Bestechungshandlungen eingestuft werden können, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfolgen, das die Durchführung von Arbeiten zum Gegenstand hat, die von einem Strukturfonds der Union mitfinanziert werden, und wegen denen ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eingeleitet wurde, auch wenn nicht bewiesen ist, dass diese Verhaltensweisen einen tatsächlichen Einfluss auf das Verfahren zur Auswahl des Bieters gehabt haben, und kein tatsächlicher Schaden für den Unionshaushalt festgestellt wurde.

Zur dritten und zur vierten Frage

41

Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen und als Zweites zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten im Fall einer Unregelmäßigkeit, wie sie in Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung definiert wird, verpflichtet sind, automatisch eine finanzielle Berichtigung von 100 % anzuwenden, oder ob sie für die Bestimmung der anwendbaren finanziellen Berichtigung eine Einzelfallprüfung u. a. im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vornehmen müssen.

42

Nach Art. 98 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006, der speziell die von den Mitgliedstaaten vorgenommenen finanziellen Berichtigungen betrifft, obliegt es in erster Linie ihnen, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen. In Abs. 2 dieses Artikels wird zum einen klargestellt, dass die Mitgliedstaaten die finanziellen Berichtigungen vornehmen müssen, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind, und zum anderen, dass diese Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird, wobei Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie der dem Fonds entstandene finanzielle Verlust berücksichtigt werden.

43

Diese Kriterien sind Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört (Urteile vom 18. November 1987, Maizena u. a., 137/85, EU:C:1987:493, Rn. 15, vom 10. Juli 2003, Kommission/EZB, C-11/00, EU:C:2003:395, Rn. 156, sowie vom 11. Januar 2017, Spanien/Rat, C-128/15, EU:C:2017:3, Rn. 71).

44

Daraus folgt, dass eine Auslegung von Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin, dass er den Mitgliedstaaten systematisch vorschreibt, wenn eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung festgestellt wird, die gesamte genehmigte Finanzierung einzubehalten und die bereits gezahlten Beträge einzuziehen, auch wenn diese Finanzierung zu den vorgesehenen Zwecken und für Arbeiten verwendet wurde, die für eine europäische Finanzierung in Betracht kommen und tatsächlich durchgeführt wurden, abgesehen davon, dass sie keine Stütze im Wortlaut dieser Bestimmungen findet, überdies darauf hinausliefe, unter Verstoß gegen die in Abs. 2 dieses Art. 98 aufgestellten Kriterien und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit automatisch eine finanzielle Berichtigung von 100 % anzuwenden.

45

In diesem Kontext können die vom vorlegenden Gericht genannten Leitlinien von 2013, in denen die Sätze für die finanziellen Berichtigungen festgelegt werden, die u. a. nach Art. 99 der Verordnung Nr. 1083/2006 anwendbar sind, der die Kriterien für von der Kommission vorgenommene finanzielle Berichtigungen betrifft, berücksichtigt werden, um die in Art. 98 Abs. 2 dieser Verordnung genannten Kriterien – anders gesagt, die auf die von den Mitgliedstaaten vorgenommenen finanziellen Berichtigungen anwendbaren Kriterien – zu konkretisieren. Denn die Mitgliedstaaten sind zwar nicht an diese Leitlinien gebunden, in deren Punkt 1.1 wird den Mitgliedstaaten jedoch empfohlen, „dieselben Kriterien und Sätze für die Korrektur [u. a. gemäß Art. 98 dieser Verordnung] von Unregelmäßigkeiten anzuwenden, die ihre eigenen Dienststellen feststellen“.

46

Aus Punkt 1.3 („Kriterien für die Auswahl des anzuwendenden Korrektursatzes“) Abs. 1 dieser Leitlinien geht hervor, dass, wenn die finanziellen Auswirkungen auf den fraglichen Auftrag nicht genau beziffert werden können, die Anwendung eines Korrektursatzes in Höhe von 5 %, 10 %, 25 % oder 100 % der Schwere der Unregelmäßigkeit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen muss.

47

Gemäß diesem Punkt 1.3 Abs. 2 wird eine Unregelmäßigkeit als schwerwiegend erachtet, wenn der Verstoß gegen das auf einen öffentlichen Auftrag anwendbare Recht, insbesondere die Grundsätze der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit, zur Vergabe des Auftrags an einen anderen Bieter als denjenigen führt, der ihn hätte erhalten sollen. Außerdem geht u. a. aus dem letzten Absatz dieses Punkts 1.3 hervor, dass eine Finanzkorrektur in Höhe von 100 % vorgenommen werden kann, wenn die Unregelmäßigkeit bestimmte Bieter begünstigt.

48

Im vorliegenden Fall stellt das vorlegende Gericht fest, dass die im Rahmen des Verfahrens zur Vergabe des in Rede stehenden öffentlichen Auftrags entdeckte Unregelmäßigkeit zur Einleitung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren auf nationaler Ebene geführt habe, um zu ermitteln, ob ein betrügerisches Handeln vorliegt, das unter die Straftat der Bestechung fällt. Vorbehaltlich der Prüfungen, die insoweit vom vorlegenden Gericht vorgenommen werden müssen, kann eine solche Unregelmäßigkeit gemäß Art. 27 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1828/2006 unter den Begriff „Betrugsverdacht“ fallen und damit gemäß Punkt 1.3 Abs. 2 der Leitlinien von 2013 als „schwerwiegend“ eingestuft werden.

49

Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten im Fall einer „Unregelmäßigkeit“, wie sie in Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung definiert wird, verpflichtet, für die Bestimmung der anwendbaren finanziellen Berichtigung eine Einzelfallprüfung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen, wobei u. a. die Art und der Schweregrad der festgestellten Unregelmäßigkeiten sowie ihre finanziellen Auswirkungen für den betreffenden Fonds zu berücksichtigen sind.

Zur zweiten Frage

50

Mit seiner zweiten Frage, die als Letztes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es nicht erlaubt, einen Wirtschaftsteilnehmer, der versucht hat, das Ergebnis eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags u. a. durch Bestechungshandlungen gegenüber den Mitgliedern des Vergabeausschusses zu beeinflussen, von diesem Verfahren auszuschließen.

51

Nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 kann jeder Wirtschaftsteilnehmer, der im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde, von der Teilnahme am Vergabeverfahren ausgeschlossen werden.

52

Der Begriff „schwere Verfehlung“ im Rahmen der beruflichen Tätigkeit ist so zu verstehen, dass er sich üblicherweise auf jedes Verhalten eines Wirtschaftsteilnehmers bezieht, das bei ihm auf Vorsatz oder auf eine Fahrlässigkeit von gewisser Schwere schließen lässt. Eine solche Verfehlung kann festgestellt werden, ohne dass es eines rechtskräftigen Urteils bedarf (Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C-465/11, EU:C:2012:801, Rn. 27, 28 und 30).

53

Allerdings muss diese Verfehlung, damit sie zum Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers, der sie begangen hat, vom Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags führen kann, notwendigerweise vor dem Abschluss dieses Verfahrens festgestellt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Impresa di Costruzioni Ing. E. Mantovani und Guerrato, C-178/16, EU:C:2017:1000, Rn. 38).

54

Vorliegend geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass ANAS über das potenzielle Bestehen eines Bestechungssystems, an dem einige ihrer Beamten beteiligt gewesen sein sollen, erst zum Zeitpunkt der Einleitung – mehrere Jahre nach der Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags – strafrechtlicher Ermittlungen betreffend das Verfahren zur Vergabe dieses öffentlichen Auftrags informiert wurde. Da sie somit nicht wusste, dass der gesetzliche Vertreter von Aleandri möglicherweise Bestechungshandlungen gegenüber einigen ihrer Beamten vorgenommen hatte, war ANAS nicht in der Lage, wegen dieses Verhaltens den Vorwurf einer schweren Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit zu erheben und demnach den vorübergehenden Zusammenschluss von Unternehmen, zu denen Aleandri gehörte, von dem in Rede stehenden Verfahren auszuschließen.

55

Daher ist die Frage, ob Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es nicht erlaubt, einen Wirtschaftsteilnehmer, der versucht hat, das Ergebnis eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags u. a. durch Bestechungshandlungen gegenüber den Mitgliedern des Vergabeausschusses zu beeinflussen, von diesem Verfahren auszuschließen, nicht zu prüfen.

Kosten

56

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 2 Nr. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung Verhaltensweisen erfasst, die als „Bestechungshandlungen“ eingestuft werden können, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erfolgen, das die Durchführung von Arbeiten zum Gegenstand hat, die von einem Strukturfonds der Union mitfinanziert werden, und wegen denen ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eingeleitet wurde, auch wenn nicht bewiesen ist, dass diese Verhaltensweisen einen tatsächlichen Einfluss auf das Verfahren zur Auswahl des Bieters gehabt haben, und kein tatsächlicher Schaden für den Unionshaushalt festgestellt wurde.

2. Art. 98 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1083/2006

ist dahin auszulegen, dass

er die Mitgliedstaaten im Fall einer „Unregelmäßigkeit“, wie sie in Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung definiert wird, verpflichtet, für die Bestimmung der anwendbaren finanziellen Berichtigung eine Einzelfallprüfung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen, wobei u. a. die Art und der Schweregrad der festgestellten Unregelmäßigkeiten sowie ihre finanziellen Auswirkungen für den betreffenden Fonds zu berücksichtigen sind.

Unterschriften