Vergabekammer Nordbayern, Az.: RMF SG21 – 3194 – 8 – 6, Beschluss vom 22.03.2023 – Leistungen des Aufnahme- und Behandlungsmanagements sind getrennte Märkte, Losvergabe, Gesamtvergabe

Mrz 22, 2023 | Rechtsprechung

Vergabekammer Nordbayern

Regierung von Mittelfranken

Az.  RMF SG21 – 3194 – 8 – 6

Beschluss vom 22.03.2023

 

Die Vergabekammer Nordbayern bei der Regierung von Mittelfranken erlässt aufgrund mündlicher Verhandlung vom 23.03.2023 durch den Vorsitzendenden hauptamtlichen Beisitzer … und den ehrenamtlichen Beisitzer … am 23.03.2023 folgenden Beschluss:

Beschluss

1. Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt ist. Bei Fortbestehen der Vergabeabsicht wird die Vergabestelle verpflichtet,

das Vergabeverfahren in den Stand vor Auftragsbekanntmachung zurückzusetzen und unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer fortzusetzen.

2. Die Vergabestelle trägt die Kosten des Verfahrens und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin.

3. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Antragstellerin wird für notwendig erklärt.

4. Die Gebühr für dieses Verfahren beträgt.,-€. Auslagen sind nicht angefallen.

 

Sachverhalt:

1.

Mit Bekanntmachung im EU-Amtsblatt vom XXX schrieb die VSt die Beschaffung und Implementierung eines Patientenportalsystems in einem Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb aus. Das Ziel des Vorhabens ist die schrittweise Einrichtung eines Patientenportals für ein digitales Aufnahmeund Behandlungsmanagement sowie Entlassungsmanagement. Eine Aufteilung des Auftrags in Lose erfolgte nicht.

Der Schlusstermin für den Eingang der Teilnahmeanträge war der … Es sind zehn Teilnahmeeinträge eingegangen. Die ASt reichte keinen eigenen Teilnahmeantrag ein. Bei acht von zehn Teilnahmeanträge wurde das Formblatt L 235U (Verzeichnis der Leistungen von Unterauftragnehmer) ausgefüllt und ein Nachunternehmer für das Entlassmanagement benannt. Bei fünf der acht eingereichten Formblätter L 235U wird die ASt als Nachunternehmerin benannt. Die übrigen zwei Teilnahmeanträge enthalten kein Formblatt L 235U. Bei einem dieser beiden Teilnahmeanträge ergibt sich allerdings aus der beigefügten Produktbeschreibung, dass für das Entlassmanagement eine externe Softwarelösung benötigt wird. Für eine Kooperation wird u.a. die ASt und zwei weitere Fachunternehmen für Entlassmanagement genannt. Bei dem anderen Teilnahmeantrag sind die eingereichten Unterlagen insoweit nicht eindeutig, eine Kooperation mit Fachunternehmen für das Entlassmanagement ist jedenfalls nicht ausgeschlossen.

2.

Mit Schreiben vom 17.01.2023 rügte die ASt die fehlende Vergabe des Auftrags in Losen.

3.

Die VSt wies mit Schreiben vom 24.01.2023 die Rüge der ASt zurück.

4.

Mit Schriftsatz vom 02.02.2023 stellten die Verfahrensbevollmächtigten der ASt einen Antrag auf Nachprüfung und beantragen:

1. gegen die Antragsgegnerin das Nachprüfungsverfahren gemäß §§ 160 ff. GWB einzuleiten;

2. die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Vergabeverfahren aufzuheben und bei fortbestehender Beschaffungsabsicht in vergaberechtskonformer Weise unter Beachtung der Rechtsansicht der Vergabekammer losweise neu zu vergeben;

3. der Antragstellerin Einsicht in die Vergabeakte gemäß § 165 Abs. 1 GWB zu gewähren;

4. der Antragsgegnerin die Kosten des Nachprüfungsverfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen und

5. die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären.

Der Nachprüfungsantrag sei zulässig. Die ASt ein Anbieter für digitales Entlassund Übernahmemanagement rüge die Verletzung von subjektiven Rechten i.S.d. § 160 Abs. 2 GWB. Vorliegend sei der ASt durch die fehlende losweise Vergabe die Abgabe eines Angebots mit realistischen Erfolgsaussichten unmöglich. Bei einer losweisen Vergabe hätte sie eine Chance auf die Zuschlagserteilung hinsichtlich des Loses für das digitale Entlassmanagement, sodass ihr aufgrund des Verstoßes auch ein Schaden drohe. Zwar werde die ASt keinen eigenen Teilnahmeantrag abgeben, als Interessentin am Auftrag sei sie dennoch antragsbefugt.

Der Nachprüfungsantrag sei begründet. Die ASt werde durch die fehlende losweise Vergabe in ihren Rechten gemäߧ 97 Abs. 6 GWB i.V.m. § 97 Abs. 4 S. 2 GWB verletzt. § 97 Abs. 4 S. 2 GWB verpflichte grundsätzlich die öffentlichen Auftraggeber zur losweisen Vergabe. Davon dürfe gemäߧ 97 Abs. 4 S. 3 GWB nur dann abgewichen werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Entgegen der Ansicht der VSt würden vorliegend weder technische noch wirtschaftliche Gründe ein Absehen von einer losweisen Vergabe erfordern.

Es sei marktüblich, die vorliegenden Aufträge getrennt oder losweise zu vergeben. Der Markt für Lösungen für digitales Entlassmanagement habe sich schon vor Inkrafttreten des KHZG gebildet. In diesem Zeitraum hätten Krankenhäuser solche Produkte ausschließlich separat und nicht gemeinsam mit dem Aufnahmeund Behandlungsmanagement beschafft. Das KHZG habe diesen Markt lediglich in die Förderung mitaufgenommen. Eine Zusammenfassung mit dem Aufnahmeund Behandlungsmanagement sei dabei aber nicht intendiert gewesen. Folglich habe sich auch seit dem Inkrafttreten des KHZG nichts daran geändert, dass das Entlassmanagement getrennt vom Aufnahmeund Behandlungsmanagement beschafft werde.

Die Markteinschätzung der VSt ignoriere auch die tatsächlichen Gegebenheiten. Die marktverfügbaren Lösungen für Entlassmanagement seien ausschließlich Produkte, die auf diese Funktion begrenzt sind. Auch würden die marktverfügbaren Lösungen für Aufnahme bzw. Behandlungsmanagement nicht zugleich über eine ausgereifte Funktion für Entlassungsmanagement verfügen.

Zudem sei bereits der Prüfungsmaßstab falsch gewesen und müsse zur Aufhebung des Vergabeverfahrens führen. Laut der Rügezurückweisung habe die VSt geprüft, ob eine Losaufteilung sinnvoll sei und einen erkennbaren Nutzen bringe. Die VSt hätte jedoch prüfen müssen, ob eine Gesamtvergabe aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen erforderlich sei.

Auch würden die inhaltlich vorgebrachten Gründe der Rügezurückweisung fehlgehen. Insbesondere wäre die VSt auch im Falle einer Gesamtvergabe mit der Nutzung verschiedener IT-Infrastrukturen konfrontiert, da keine am Markt erhältliche Lösung die komplette Funktionalität allein abbilde. Alle Anbieter würden der VSt Konstellationen unter Einbeziehung von Nachunternehmern anbieten. Für eine losweise Vergabe spreche vielmehr, dass das Aufnahme- und Behandlungsmanagement von den Patienten selbst genutzt werde, hingegen das Entlassmanagement zur Kommunikation des Krankenhauses mit Nachversorgern diene. Aufgrund der unterschiedlichen Anwendungsfälle und Nutzergruppen seien die technischen Infrastrukturen grundlegend verschieden.

5.

Mit Schriftsatz vom 10.02.2023 beantragen die Verfahrensbevollmächtigten der VSt:

1. den Nachprüfungsantrag vom 2.2.2023 zurückzuweisen;

2. der Antragstellerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Gebühren und Auslagen des Antragsgegners;

3. die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch den Antragsgegner für notwendig zu erklären.

Der Nachprüfungsantrag sei nicht zulässig. Der ASt fehle es an der Antragsbefugnis. Mangels Abgabe eines eigenen Teilnahmeantrags seien erhöhte Anforderungen an das Auftragsinteresse und den kausalen Schaden i.S.d. § 160 Abs. 2 GWB zu stellen. Die ASt habe keinen kausalen Schaden schlüssig vorgetragen. Der Schaden beziehe sich auf die Zuschlagschancen. Die ASt habe selbst keine eigene Bewerbung eingereicht, allerdings werde sie in fünf Teilnahmeanträgen als potentielle Unterauftragnehmerin benannt. Die einheitliche Vergabe mache die Teilhabe der ASt keinesfalls unmöglich. Ihre Chancen an dem Auftrag seien aufgrund ihrer mehrfachen Unterauftragnehmereigenschaft höher, als wenn sie einen eigenen Teilnahmeantrag eingereicht hätte. Auch habe die ASt ihr Interesse am Auftrag nicht ausreichend schlüssig dargestellt.

Der Nachprüfungsantrag sei unbegründet. Der VSt sei kein Vergabefehler anzulasten, der die ASt in ihren Rechten verletzt.

Vor der Frage nach den wirtschaftlichen und technischen Gründen i.S.d. § 97 Abs. 4 S. 3 GWB sei zu klären, ob der Auftrag überhaupt trenn- und teilbar sei. Für die Feststellung, ob eine bestimmte Tätigkeit Gegenstand eines Fachloses sei, sei insbesondere von Belang, ob sich für die jeweilige Leistung ein eigener Markt mit mehreren spezialisierten Fachunternehmen gebildet habe. Ein eigenständiger Markt für ein digitales Entlass- und Überleitungsmanagement habe sich nicht gebildet. Für die nachgefragten Leistungen existiere kein eigener Anbietermarkt mit ausreichend Fachunternehmen. Hingegen gebe es Anbieter, die Komplettlösungen für Aufnahme-, Behandlungsund Entlassmanagement anbieten. Hierzu benennt die VSt mehrere Unternehmen und verweist insbesondere auf deren Angaben in den Internetpräsenzen. Zudem würden zahlreiche andere Auftraggeber das digitale Entlass- und Überleitungsmanagement nicht losweise ausschreiben.

Die VSt habe ungeachtet ihrer Auffassung, kein Fachlos bilden zu müssen gleichwohl (hilfsweise) die Sinnhaftigkeit und den Nutzen einer dennoch erfolgenden Fachlosaufteilung geprüft. Dies sei am Maßstab des § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB erfolgt. Die Voraussetzungen für eine Gesamtvergabe würden vorliegen. Die VSt habe dabei den „Markt“ nicht ignoriert, Beispiele für Komplettanbieter seien dargestellt worden.

6.

Am 13.02.2023 wurde der ASt unter Beachtung des Geheimschutzes eingeschränkt Akteneinsicht erteilt.

7.

Mit Schriftsatz vom 24.02.2023 nehmen die Verfahrensbevollmächtigten der ASt zur Akteneinsicht und zum Schriftsatz der VSt Stellung.

Die ASt sei antragsbefugt. Sie müsse in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden nur darlegen, dass sie ohne den Vergabeverstoß ein Angebot abgegeben hätte. Selbst wenn man mit der VSt fälschlicherweise für ein Auftragsinteresse auf die Eignung zur Leistungserbringung abstellen würde, hätte die ASt ein ebensolches. Sie habe ein Interesse an einem getrennten Auftrag nur über das Entlassmanagement und weise insofern auch die erforderliche Eignung auf. Der ASt drohe durch die Gesamtvergabe auch ein Schaden. Nicht maßgeblich sei, ob die ASt durch eine Unterbeauftragung am Gesamtauftrag partizipieren könne. Im Falle eines getrennten Entlassmanagement-Loses hätte die ASt nicht nur eine deutlich bessere, sondern überhaupt erstmalig eine Chance auf Zuschlagserteilung. Der Verweis auf eine mögliche Beteiligung als Nachunternehmer sie kein gleichwertiges Substitut zu einem unmittelbaren Zuschlag auf ein Los. Eine Gesamtvergabe führe für die ASt zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen.

Der Nachprüfungsantrag sei begründet. Die Gesamtvergabe verstoße gegen § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB und verletze die ASt in ihren Rechten.

Die Anforderung an Lösungen für digitales Aufnahme- und Behandlungsmanagement unterscheide sich fundamental von denen für digitales Entlassmanagement. Aus diesem Grund hätten sich zwei verschiedene Märkte herausgebildet. Es würden Lösungen für digitales Aufnahme- und Behandlungsmanagement und Lösungen für digitales Entlassmanagement existieren. Auf dem Markt würden sich jedenfalls derzeit keine Lösungen befinden, die sämtliche drei Lösungsaspekte abbilden. Sämtliche Anbieter von Lösungen für digitales Aufnahme- und Behandlungsmanagement die mehrheitlich erst mit Inkrafttreten des KHZG entwickelt worden seien würden im Rahmen von Gesamtvergaben auf eine Lösung von drei Anbietern für digitales Entlassmanagement zurückgreifen, um diesen Leistungsbestandteil zu erfüllen. Sie würden Lösungen für digitales Entlassmanagement nur mittelbar anbieten. Auf dem deutschen Markt gebe es keine Lösung für alle drei Bereiche.

Die getrennte Vergabe sei die überwiegende Praxis. Ein Großteil der Krankenhäuser hätte diese Marktsituation erkannt, weshalb sie das digitale Entlassmanagement getrennt von Lösungen zum digitalen Aufnahme- und Behandlngsmanagement beschaffen würden. Bei den Gesamtvergaben würden Anbieter für digitales Aufnahme- und Behandlungsmanagement das Leistungsspektrum digitales Entlassmanagement nicht selbst erbringen, sondern über die Unterbeauftragung der drei genannten Anbieter. Im Ergebnis mache es für Krankenhäuser in der Nutzung keine praktischen Unterschiede, ob sie eine Gesamtvergabe oder eine losweise Vergabe durchführen.

Die Voraussetzungen des § 97 Abs. 4 S. 3 GWB seien nicht erfüllt. Die VSt habe ihre Gründe nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Bei der Nutzung von Lösungen für digitales Entlassmanagement mache es keinen Unterschied, ob eine Gesamtvergabe oder eine losweise Vergabe erfolge. Schon aufgrund des falschen Prüfungsmaßstab sei die Entscheidung der VSt vergaberechtswidrig. Anstatt zu prüfen, ob eine Gesamtvergabe erforderlich sei, habe die VSt „die Sinnhaftigkeit und den Nutzen einer Fachlosaufteilung geprüft“.

8.

Mit Schriftsatz vom 08.03.2023 wiederholen und ergänzen die Verfahrensbevollmächtigten der VSt im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag.

Der Nachprüfungsantrag sei nicht begründet. Die einheitliche Vergabe sei rechtmäßig.

Die Anforderungen zwischen den Managamentlösungen würden sich nicht fundamental unterscheiden. Es würden keine zwei verschiedenen Märkte existieren. Für die VSt bestehe ein einziger Markt für das Angebot digitaler Patientenportale, sodass sich die Frage einer Gesamtvergabe von vornherein nicht stelle. überdies würden die Voraussetzungen für eine zusammengefasste Vergabe i.S.d. § 97 Abs. 4 S. 2 GWB vorliegen.

Nach der Markteinschätzung der VSt würden eigene digitale Patientenportallösungen ,,aus einer Hand“ und „aus einem Guss“ bestehen. Es würden auf dem Markt etliche Unternehmen existieren, die Entlassmanagement anbieten und dafür nicht auf eine Unterbeauftragung zurückgreifen. Hierzu benennt die VSt erneut mehrere Unternehmen und verweist insbesondere auf deren Angaben in den Internetpräsenzen.

Es treffe nicht zu, dass ein Großteil der Krankenhäuser das digitale Entlassmanagement getrennt beschaffen würde. Bei einigen von der ASt genannten EU-Bekanntmachungen, in denen das Entlassmanagement getrennt ausgeschrieben worden sei, seien vermutlich das Aufnahmeund Behandlungsmanagement schlicht „vergessen“ worden oder es habe keinen Beschaffungsbedarf hierfür gegeben. Letztlich beweise allein der beabsichtigte Einsatz eines Nachunternehmers nicht die zwingende Notwendigkeit einer Losaufteilung.

Die VSt habe keinen falschen Prüfungsmaßstab angewendet. Die Prüfung sei anhand der Kriterien des § 97 Abs. 4 GWB durchgeführt worden. Dies sei im Vergabevermerk entsprechend dokumentiert. Es bestehe kein eigener Anbietermarkt für ein digitales Entlassmanagement. Bei der Beauftragung eines Unternehmens, das eine Gesamtlösung anbiete, sei es keineswegs der Fall, dass das Entlassmanagement eines Unterauftragsnehmers angebunden werden müsste.

9.

Mit Schriftsatz vom 17.03.2023 wiederholten und vertieften auch die Verfahrensbevollmächtigten der ASt im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag.

Die ASt sei bei fünf Teilnahmeanträgen als Nachunternehmerin benannt worden. Grund dafür sei, dass die Bieter das Entlassmanagement nicht selbst und damit keine Gesamtleistung aus einer Hand anbieten können. Die vorliegende Praxis, bei der für konkrete Leistungsbestandteile regelmäßig Unterauftragnehmer eingesetzt werden müssen, verdeutliche, dass es sich dabei um eine abgrenzbare Leistung und einen eigenständigen Markt handle. Der getrennte Anbietermarkt sei ein starkes Indiz für eine Fachlosbildung.

Soweit es auf dem Markt weiterhin Nachfrager gebe, die eine Gesamtvergabe durchführen, könne dem keine Bedeutung zukommen. Ein systematischer Verstoß öffentlicher Auftraggeber gegen den Grundsatz der losweisen Vergabe könne allein nicht dazu führen, dass an sich getrennte Märkte als einheitlicher Markt gelten.

10.

Mit Schriftsatz vom 22.03.2023 wiederholten und vertieften die Verfahrensbevollmächtigten der VSt im Wesentlichen erneut ihren bisherigen Vortrag.

11.

Am 03.03.2023 hat die Vergabekammer wegen tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten die Entscheidungsfrist gern. § 167 Abs. 1 Satz 2 GWB bis einschließlich 28.04.2023 verlängert.

12.

In der mündlichen Verhandlung am 23.03.2023 hatten die Beteiligten Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern. Die Beteiligten bleiben bei ihren schriftsätzlich gestellten Anträgen.

13.

Im Übrigen wird hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Verfahrensakte der Vergabekammer, das Protokoll der mündlichen Verhandlung und die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, Bezug genommen.

Begründung:

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet.

1.

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.

a)

Die Vergabekammer Nordbayern ist für das Nachprüfverfahren nach § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 2 Satz 2 BayNpV sachlich und örtlich zuständig.

b)

Die VSt ist öffentlicher Auftraggeber nach § 99 GWB.

c)

Bei dem ausgeschriebenen Lieferauftrag handelt es sich um einen öffentlichen Auftrag im Sinne von § 103 Abs. 2 GWB.

d)

Der Auftragswert übersteigt gemäß der Auftragswertberechnung der VSt den Schwellenwert, § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB.

e)

Die ASt ist antragsbefugt. Antragsbefugt ist nach § 160 Abs. 2 GWB jedes Unternehmen, das ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag hat, eine Verletzung in eigenen, bieterschützenden Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB geltend macht und einen dadurch entstandenen oder drohenden Schaden darlegt.

Aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes kann die Antragsbefugnis nur einem Unternehmen fehlen, bei dem offensichtlich eine Rechtsbeeinträchtigung nicht vorliegt. Die Antragsbefugnis erfüllt nur die Funktion eines groben Filters, um von vornherein eindeutige Fälle auszusondern (OLG Düsseldorf, B.v. 17.02.2016 VII-Verg 37/14 -, juris Rn. 36). Deshalb sind an das Vorliegen der Antragsbefugnis auch keine allzu großen Anforderungen zu stellen.

Ein Interesse am Auftrag im Sinne von § 160 Abs. 2 GWB liegt grundsätzlich immer dann vor, wenn sich der Bieter an der Ausschreibung beteiligt und ein ernst zu nehmendes Angebot abgegeben hat (Möllenkamp in: Kulartz/Kus/Portz/Prieß, GWB Vergaberecht, 4. Aufl. 2016, § 160 GWB Rn. 43).

Im vorliegenden Teilnahmeverfahren hat die ASt zwar keinen Teilnahmeantrag abgegeben. Dies hindert aber nicht ihr Interesse am Auftrag.

Das Interesse am Auftrag ist weit auszulegen (BVerfG, B.v. 29.07.2004 2 BvR 2248/03 -, juris Rn. 26).

Unternehmen, die keinen Teilnahmeantrag oder kein Angebot abgegeben haben, aber substantiiert rügen, gerade hieran durch vergaberechtswidriges Verhalten der Vergabestelle gehindert worden zu sein, sind insoweit grundsätzlich antragsbefugt (vgl. BayObLG, B.v. 04.02.2003 Verg 31/02).

Die ASt hat i.S.d. § 160 Abs. 2 GWB vorgetragen, dass sie ein Interesse an dem öffentlichen Auftrag hat und eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Sie hat in ihrem Nachprüfungsantrag schlüssig behauptet, dass sie keinen Teilnahmeantrag abgeben konnte, weil die Bedingungen der Ausschreibung dies verhindert haben. Daraus folgt ferner ein der ASt drohender Schaden wegen fehlender Teilnahmemöglichkeit.

Es ist weder gerechtfertigt, noch zumutbar, von einem Bieter die Einreichung eines Angebots bzw. Teilnahmeantrags zu verlangen, dessen Grundlagen der Bieter im Nachprüfungsverfahren als rechtswidrig bekämpft. Auch kann von einem Bieter nicht verlangt werden, ein beabsichtigtes Angebot bzw. Teilnahmeantrag darzulegen für einen Auftrag, den die VSt noch nicht ausgeschrieben hat, sondern erst noch ausschreiben soll. Ebenso wenig können von dem Bieter Eignungsnachweise verlangt werden, die die VSt erst noch festzulegen hätte. Allerdings werden in dieser Konstellation höhere Anforderungen an die Darlegung des Interesses am Auftrag gestellt. Der Bieter muss einen „gewichtigen Vergaberechtsverstoß“ rügen und schlüssig vortragen, gerade durch den gerügten Vergaberechtsfehler an der Abgabe eines Angebots gehindert worden zu sein (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 16.10.2019 VII-Verg 66/18 -, juris Rn. 42). Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der ASt. Die ASt behauptet einen gewichtigen Vergaberechtsverstoß. Als solcher ist in der Rechtsprechung insbesondere der hier gerügte Verstoß gegen das Gebot zur Losbildung anerkannt (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 16.10.2019 VII-Verg 66/18 -, juris Rn. 43). Die ASt dokumentierte ihr Interesse am Auftrag auch hinreichend durch die vorprozessuale Rüge (§ 160 Abs. 3 GWB) und den anschließenden Nachprüfungsantrag (vgl. ZiekowNöllink, Vergaberecht,§ 160 GWB, Rn. 12 ff. m.w.N.).

Der aus der behaupteten Verletzung der Vergabevorschriften drohende Schaden der ASt liegt in den fehlenden Zuschlagschancen, begründet durch den Umstand, dass sie sich durch die Spezifikationen in der Ausschreibung gehindert gesehen hat, einen Teilnahmeantrag abzugeben. An die Darlegung des entstandenen oder drohenden Schadens i.S. des§ 160 Abs. 2 S. 2 GWB werden keine sehr hohen Anforderungen gestellt. Es wird vielmehr als ausreichend angesehen, dass ein Schadenseintritt wie hier nicht offensichtlich ausgeschlossen ist (vgl. BVerfG, B.v. 29.07.2004 2 BvR 2248/03 -, juris Rn 28).

Für die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags ist insoweit die schlüssige Behauptung der Rechtsverletzung erforderlich, aber regelmäßig auch ausreichend (BGH, B.v. 26.09.2006 X ZB 14/06). Ob der Rechtsverstoß tatsächlich vorliegt, ist eine Frage der Begründetheit.

f)

Die ASt hat ihrer Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GWB genügt. Mit Schreiben vom 17.01.2023 und damit rechtzeitig vor Ablauf der Teilnahmefrist am 06.02.2023 rügte die ASt die fehlende Vergabe des Auftrags in Losen.

g)

Zum Zeitpunkt der Stellung des Nachprüfungsantrags am 02.02.2023 war die Frist gemäß § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 GWB nicht abgelaufen, die der ASt nach der Rügezurückweisung vom 24.01.2023 zur Verfügung stand.

h)

Der Zuschlag wurde noch nicht erteilt, § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB.

2.

Der Nachprüfungsantrag ist begründet.

Die beabsichtigte Gesamtvergabe verletzt die ASt in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 i.V.m. § 97 Abs. 4 S. 2 GWB.

Bei den Leistungen des Aufnahme- und Behandlungsmanagements einerseits und des Entlassmanagements andererseits handelt es sich um getrennte Märkte (a). Die zusammenfassende Vergabe ist vorliegend nicht zulässig (b).

a)

Grundsätzlich steht es jedem Auftraggeber frei, die auszuschreibende Leistung nach seinen individuellen Vorstellungen zu bestimmen und nur in dieser Gestalt den Wettbewerb zu eröffnen. Er befindet deshalb grundsätzlich alleine darüber, welchen Umfang die zu vergebenden Leistungen haben sollen und ob gegebenenfalls mehrere Leistungseinheiten gebildet werden, die gesondert zu vergeben sind. Beschränkt wird die Freiheit, den Beschaffungsbedarf autonom zu bestimmen dadurch, dass aus Gründen der Stärkung des Mittelstands Leistungen grundsätzlich in Losen zu vergeben sind, § 97 Abs. 4 S. 2 GWB (vgl. OLG Karlsruhe, B.v. 29.04.2022 15 Verg 2/22).

Voraussetzung ist zunächst, dass die ausgeschriebene Leistung losweise vergeben werden kann. Für diese Feststellung ist insbesondere von Belang, ob sich für die spezielle Leistung ein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen herausgebildet hat; hierbei sind die aktuellen Marktverhältnisse von wesentlicher Bedeutung (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 11.01.2012, VII-Verg 52/11; OLG München, B.v. 09.04.2015, Verg 1/15; OLG Karlsruhe, B.v. 29.04.2022, 15 Verg 2/22).

Die VSt beabsichtigt die Beschaffung eines klinikweiten Patientenportals. Das Ziel des Vorhabens ist die schrittweise Einrichtung eines Patientenportals für ein digitales Aufnahme- und Behandlungsmanagement sowie Entlassungsmanagement.

Die VSt hat die drei Bereiche Aufnahme-, Behandlungs- und Entlassmanagements ohne Losaufteilung ausgeschrieben. Im Vergabevermerk über die Entscheidung zur Gesamtvergabe kommt die VSt zu dem Ergebnis, dass die Leistung nicht teilbar ist, da kein eigener Markt mit spezialisierten Fachunternehmen für die jeweiligen Leistungen besteht und deshalb keine Fachlosbildung in Betracht kommt.

Dieser Markteinschätzung der VSt eine dokumentierte Markterkundung liegt nicht vor folgt die Vergabekammer nicht. Nach Auffassung der Vergabekammer existiert ein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen für Entlassmanagement. Bei den Leistungen des Aufnahme- und Behandlungsmanagements auf der einen Seite und des Entlassmanagements auf der anderen Seite handelt es sich um Leistungen getrennter Märkte, die grundsätzlich in getrennten Fachlosen auszuschreiben sind.

Für die Vergabekammer stellt sich die Situation so auch eine im Internet abrufbare Deloitte Studie (,,Marktreport: Entlassmanagement im Krankenhaus“) so dar, dass sich für das Entlassmanagement eine Art Start-Up-Szene gebildet hat. Die gesetzliche Grundlage für das Entlassmanagement bildet unter anderem seit 2015 das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG 2015). Seitdem umfasst nach § 39 Abs. 1a SGB V die Krankenhausbehandlung ein Entlassmanagement zur Unterstützung des Übergangs in die Anschlussversorgung. Im Jahr 2017 trat zudem noch der Rahmenvertrag Entlassmanagement in Kraft.

In dieser relativ kurzen Zeit haben sich bereits Unternehmen auf das Entlassmanagement spezialisiert. Gerade in der Start-Up-Szene handelt es sich aber oft um einen dynamischen Markt. Mit den sich wandelnden Marktverhältnissen gehen oft Veränderungen einher. Für die Vergabekammer ist letztlich die aktuelle Marktsituation entscheidend.

Nach Auffassung der Vergabekammer gibt es einen eigenständigen Markt für das Entlassmanagement. Die Markteinschätzung der VSt, dass es keinen eigenen Markt für das Entlassmanagement gibt, stattdessen aber einen Markt für eine Patientenportalsoftware „aus einer Hand“, die alle drei Leistungsbereiche (Aufnahme-, Behandlungsund Entlassmanagement) umfasst, ohne hierfür externe Fachunternehmen für das Entlassmanagement als Nachunternehmer oder im Wege einer Kooperation zu benötigen, geht fehl.

Die Beteiligten haben zwar schriftsätzlich diverse Auftragsbekanntmachungen benannt, wonach das Entlassmanagement entweder isoliert oder zusammen mit dem Aufnahme- und Behandlungsmanagement ausgeschrieben worden ist. Letztlich haben derartige Auftragsbekanntmachungen anderer öffentlicher Auftraggeber aber keine lndizwirkung für das streitgegenständliche Vergabeverfahren. Die Aussagekraft dieser Auftragsbekanntmachungen ist ohnehin sehr eingeschränkt. Die Hintergründe sind weder den Beteiligten noch der Vergabekammer bekannt. Vermutungen wie etwa der VSt, dass bei einer getrennten Ausschreibung des Entlassmanagements vermutlich das Aufnahme- und Behandlungsmanagement schlicht „vergessen“ worden ist oder es keinen Beschaffungsbedarf hierfür gegeben hat, sind wenig hilfreich. Im Übrigen können Vergabeverfahren anderer öffentlicher Auftraggeber, in denen eine Gesamtvergabe ausgeschrieben wurde, es aber zu keinem Nachprüfungsverfahren und damit zu keiner rechtlichen Prüfung gekommen ist, keine Aussage zur Rechtmäßigkeit der Gesamtvergabe treffen. Insoweit gilt der Grundsatz „keine Gleichheit im Unrecht“.

Für das Bestehen eines eigenen Marktes mit spezialisierten Fachunternehmen für das Entlassmanagement sprechen die unterschiedlichen Zielsetzungen und funktionalen Anforderungen an das Entlassmanagement im Gegensatz zum Aufnahme- und Behandlungsmanagement. Das Bundesamt für Soziale Sicherung benennt in der Richtlinie zu§ 21 Abs. 2 KHSFV für die drei Bereiche unterschiedliche Zielsetzungen und funktionale Anforderungen. So stehen sowohl beim Aufnahme- als auch dem Behandlungsmanagement neben den Mitarbeitern des Krankenhauses insbesondere die Patienten im Fokus, während das Entlassmanagement vielmehr (nur) die Mitarbeiter im Krankenhaus betrifft und diese im Rahmen der Organisation der Anschlussversorgung entlasten soll. Ein wesentlicher Unterschied besteht daher auch bei der Nutzergruppe. Das digitale Entlassmanagement stellt sich wie auch die ASt zutreffend vertritt anders als die anderen beiden Leistungsbereiche eher als eine Art „Marktplatz“ dar, worüber externe Leistungserbringer angebunden sind und gefunden werden können.

Für einen eigenständig entwickelten Markt für das Entlassmanagement und gleichzeitig gegen eine Komplettlösungssoftware für Patientenportale (Aufnahme-, Behandlungsund Entlassmanagement ohne den Einsatz von externen Fachunternehmen) spricht auch die zeitliche Entwicklung. Die Historie zeigt, dass es das Entlassmanagement bereits seit 2015 gibt und schon vor dem Inkrafttreten des KHZG öffentliche Auftraggeber eine Software für das Entlassmanagement genutzt haben. Die Förderung im Rahmen des KHZG und die damit einhergehenden Ausschreibungen von Patientenportalen erfolgte erst ab 2020. Möglicherweise entwickelt sich zukünftig noch ein entsprechender Markt für Komplettlösungen für Patientenportale, nach Auffassung der Vergabekammer existiert ein derartiger Markt allerdings aktuell nicht. In der mündlichen Verhandlung hat dies auch der informatorisch angehörte … bestätigt. Demnach kann derzeit kein Anbieter eines Patientenportals (Aufnahme- und Behandlungsmanagement) eine Software für das Entlassmanagement selbst anbieten. Insoweit trifft die Aussage der ASt zu, dass sich derzeit Anbieter für das Aufnahme- und Behandlungsmanagement eines Fachunternehmens für das Entlassmanagement bedienen müssen, wenn das Aufnahme- und Behandlungsmanagement zusammen mit dem Entlassmanagement ausgeschrieben wird.

Aus Sicht der Vergabekammer aber letztlich entscheidend sind die im vorliegenden Vergabeverfahren eingereichten Teilnahmeanträge. Die Vergabekammer geht davon aus, dass die Bewerbungen im streitgegenständlichen Vergabeverfahren auch die Marktlage wiederspiegeln. Die eingereichten Teilnahmeanträge stellen daher eine ausreichend objektive Grundlage dar, woraus ein tragfähiger Rückschluss auf die aktuelle Marktlage gezogen werden kann.

Aus den vorhandenen Teilnehmeranträgen lässt sich herleiten, dass ein eigener Markt für Fachunternehmen für Entlassmanagement besteht und derzeit keine Patientenportalsoftware existiert, die ohne den Einsatz von Fachunternehmen für Entlassmanagement sei es über eine Kooperation oder als Nachunternehmer auskommt.

Im vorliegenden Vergabeverfahren haben acht von zehn Bewerbern das Formblatt L 235U (Verzeichnis der Leistungen von Unterauftragnehmer) ausgefüllt und einen Nachunternehmer für das Entlassmanagement benannt. Bei fünf der acht eingereichten Formblätter L 235U wird die ASt als Nachunternehmerin benannt. Die übrigen zwei Teilnahmeanträge enthalten zwar kein Formblatt L 235U. Allerdings ergibt sich bei einem dieser beiden Teilnahmeanträge aus der beigefügten Produktbeschreibung, dass für das Entlassmanagement eine externe Softwarelösung benötigt wird. Für eine Kooperation wird dort unter anderem die ASt und zwei weitere Fachunternehmen für Entlassmanagement genannt. Die eingereichten Unterlagen bei dem verbleibenden Teilnahmeantrag sind insoweit nicht eindeutig, eine Kooperation mit Fachunternehmen für das Entlassmanagement ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Allein die Verwendung des Begriffs „Patientenportal“ im Teilnahmeantrag oder auf Internetpräsenzen enthält noch keine Aussage darüber, ob das jeweilige Unternehmen alle drei Leistungsbereiche eigenständig anbieten kann oder ob es etwa Kooperationen mit Fachunternehmen für Entlassmanagement eingehen muss. Dies wird auch im vorliegenden Fall deutlich: Die VSt hat schriftsätzlich Unternehmen benannt, die vermeintlich Komplettlösungen anbieten, und insbesondere auf deren Internetpräsenzen verwiesen. Mehrere dieser seitens der VSt genannten Unternehmen haben tatsächlich am streitgegenständlichen Vergabeverfahren teilgenommen. Allerdings haben diese Unternehmen ausdrücklich Nachunternehmer für das Entlassmanagement benannt. Dies steht im eindeutigen Widerspruch zu der Aussage der VSt, dass diese Unternehmen Komplettlösungen anbieten.

Im Ergebnis kann jedenfalls festgestellt werden, dass alle bzw. zumindest die weit überwiegende Mehrheit der eingereichten Teilnahmeanträge ein Fachunternehmen für Entlassmanagement benötigen und eine Patientenportalsoftware als Komplettlösung ohne die Einbindung von Fachunternehmen für Entlassmanagement derzeit nicht existiert. Die Ansicht der VSt, dass es Unternehmen am Markt gibt, die alle drei Teilbereiche selbst anbieten können, wurde hierdurch vollumfänglich widerlegt.

Die Auffassung der VSt, dass die Inanspruchnahme von Nachunternehmen auch andere Gründe als die fachliche Eignung des Nachunternehmers haben kann, z.B. wirtschaftliche Gründe, überzeugt nicht. Die Vergabekammer kann insoweit nicht nachvollziehen, weshalb ein Unternehmen unterstellt es hat bereits das Entlassmanagement im eigenen Portfolio ein externes Fachunternehmen für Entlassmanagement als Nachunternehmen benennen sollte. Insbesondere wirtschaftliche Gründe würden vielmehr dagegensprechen, da dies dem Unternehmen nur weitere Kosten verursachen würde.

Im Übrigen räumt sogar die VSt in der mündlichen Verhandlung ein, dass sie die Software für das Aufnahmeund Behandlungsmanagement gesondert beschaffen würde, wenn sie sich schon vorher ein digitales Entlassmanagement angeschafft hätte. Nach eigenen Angaben der VSt ließe sich bei einer solchen Konstellation nicht vermeiden, dass man zwei Vertragspartner hätte. Nach Auffassung der Vergabekammer ist der Vortrag der VSt insoweit widersprüchlich, da sie hiermit bestätigt, dass eine getrennte Beschaffung des digitalen Entlassmanagements letztlich doch möglich ist.

Die Vergabekammer ist im Ergebnis überzeugt, dass derzeit ein eigener Markt für Entlassmanagement besteht. Ihr sind auch mehr als drei Fachunternehmen für das Entlassmanagement bekannt, so dass auch von einem ausreichenden Wettbewerb ausgegangen werden kann. Aufgrund der Teilbarkeit der Leistung sind daher grundsätzlich Fachlose zu bilden.

b)

Nach§ 97 Abs. 4 S. 2 GWB sind Leistungen in Losen zu vergeben. Hiervon kann nach§ 97 Abs. 4 S. 3 GWB nur ausnahmsweise dann abgesehen werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern.

Die Frage, ob technische oder wirtschaftliche Gründe es im Sinne des Gesetzes „erfordern“, von einer Losbildung abzusehen, setzt eine Bewertung voraus. Dabei steht dem Auftraggeber wegen der dabei anzustellenden prognostischen Überlegungen eine „Einschätzungsprärogative“ zu. Der Maßstab der rechtlichen Kontrolle ist dabei beschränkt. Die Entscheidung des Auftraggebers, eine Gesamtvergabe beim Vorliegen von technischen oder wirtschaftlichen Gründen für erforderlich zu halten, ist von den Vergabenachprüfungsinstanzen darauf zu überprüfen, ob sie auf vollständiger und zutreffender Sachverhaltsermittlung und nicht auf einer Fehlbeurteilung, namentlich auf Willkür, beruht (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 25.05.2022 VIIVerg 33/21 m.w.N; OLG München, B.v. 25.03.2019 -Verg 10/18 m.w.N.). Die Überprüfung erfolgt anhand der im Vergabevermerk zeitnah dokumentierten Abwägung (OLG Karlsruhe, B.v. 29.04.2022 15 Verg 2/22).

Die VSt ist vorliegend von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Sie geht sowohl im Vergabevermerk als auch im Nachprüfungsverfahren davon aus, dass kein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen für die einzelnen Funktionsweisen besteht. Vielmehr soll es Anbieter geben, die alle Funktionsweisen (Aufnahme-, Behandlungs- und Entlassmanagement) erfüllen.

Wie bereits oben (a) dargelegt, ist diese Auffassung der VSt fehlerhaft. Nach Auffassung der Vergabekammer besteht ein eigener Markt der Fachunternehmen für Entlassmanagement. Dagegen gibt es derzeit keine Anbieter, die alle Funktionsweisen (Aufnahme-, Behandlungs- und Entlassmanagement) erfüllen, ohne ein Fachunternehmen für Entlassmanagement sei es im Wege einer Kooperation oder als Nachunternehmen einzubinden.

Die VSt hat daher ihrer Entscheidung im Rahmen des § 97 Abs. 4 S. 3 GWB einen falschen Sachverhalt zugrunde gelegt. Damit überschreitet sie allerdings ihren Beurteilungsspielraum (vgl. Gabriel/Krohn/Neun VergabeR-HdB/Weiner § 1 Rn. 76). Dies allein stellt bereits einen vergaberechtlichen Verstoß dar.

Auf die weiteren Ausführungen der VSt zum Ausnahmetatbestand des § 97 Abs. 4 S. 3 GWB kommt es daher nicht mehr an, da diese letztendlich auf einem unzutreffenden Sachverhalt beruhen.

Ob überdies auch der Vorwurf der ASt zutrifft, dass die VSt bei ihrer lnteressensabwägung einen falschen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt hat, kann offenbleiben.

c)

Die ASt ist gemäß § 168 Abs. 1 GWB in ihren Rechten verletzt, weil sie unmittelbar durch die Vorgehensweise der VSt betroffen ist. Sie trägt zu Recht vor, dass ihr durch die Art der Ausschreibung der Zugang zur Vergabe verwehrt wird.

In der Sache unzutreffend ist insoweit der Vortrag der VSt, dass die Gesamtvergabe keine gravierenden Nachteile bzw. keinen Schaden für die ASt darstelle. Vielmehr ist es für ein Unternehmen in der Regel immer von Nachteil, wenn es in die Position eines Nachunternehmers gedrängt wird (vgl. VK Westfalen, B.v, 13.08.2021 -VK 3-26/21 -, juris Rn. 98).

Eine Gesamtvergabe lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass der Auftrag insgesamt an eine Bietergemeinschaft vergeben wird, die aus mehreren mittelständischen Unternehmen besteht, oder dass die Möglichkeit besteht, als mittelständischer Nachunternehmer an der Ausschreibung teilzunehmen (vgl. Gabriel/Krohn/Neun VergabeR-HdB/Weiner § 1 Rn. 75 m.w.N.).

Im Ergebnis ist deshalb der VSt aufzugeben, bei Fortbestehen der Vergabeabsicht das Vergabeverfahren in den Stand vor Auftragsbekanntmachung zurückzusetzen und unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer fortzusetzen.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.

a)

Die VSt trägt die Verfahrenskosten, weil sie mit ihrem Antrag unterlegen ist, § 182 Abs. 3 S. 1 GWB.

b)

Die Kostenerstattungspflicht gegenüber der ASt ergibt sich aus § 182 Abs. 4 S. 1 GWB.

c)

Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten war für die ASt notwendig (§ 182 Abs. 4 S. 4 GWB i.V.m. Art. 80 Abs. 2 S. 3 BayVwVfG entspr.). Es handelt sich um einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht einfach gelagerten Fall, sodass es der ASt nicht zuzumuten war, das Verfahren vor der Vergabekammer selbst zu führen.

d)

Die Gebühr war nach § 182 Abs. 2 und 3 GWB festzusetzen. Im Hinblick auf die Auftragswertberechnung der VSt und unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer errechnet sich entsprechend der Tabelle des Bundeskartellamtes eine Gebühr in Höhe von … €. Da keine Beiladung erfolgt ist, reduziert sich die Gebühr um-… € auf … €.

e)

Der geleistete Kostenvorschuss von 2.500,€ wird der ASt nach Bestandskraft dieses Beschlusses zurücküberwiesen.

RechtsmitteIbeIehrung:

Gegen den Beschluss der Vergabekammer kann binnen einer Notfrist von 2 Wochen (§ 172 GWB), die mit der Zustellung der Entscheidung beginnt, die sofortige Beschwerde (§ 171 GWB) schriftlich beim Bayerischen XXX

eingelegt werden.

Die sofortige Beschwerde ist zugleich mit ihrer Einlegung zu begründen.

Die Beschwerdebegründung muss enthalten:

1. Die Erklärung, inwieweit die Entscheidung der Vergabekammer angefochten und eine abweichende Entscheidung beantragt wird.

2. Die Angabe der Tatsachen und Beweismittel, auf die sich die Beschwerde stützt.

Die Beschwerdeschrift muss durch einen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. Dies gilt nicht für Beschwerden von juristischen Personen des öffentlichen Rechts.

Mit der Einlegung der Beschwerde sind die anderen Beteiligten des Verfahrens vor der Vergabekammer vom Beschwerdeführer durch Übermittlung einer Ausfertigung der Beschwerdeschrift zu unterrichten.