2. Vergabekammer des Bundes, Az.: VK2-46/23, Beschluss vom 06.07.2023 – Auftragswertaddition von vier einzelnen Gebäuden, § 3 VgV i.V.m. § 1 EU Abs. 2 S. 2 VOB/A; Herstellung einer funktionellen Einheit über einheitliche Zweckbestimmung und über Auftrag für die vorangegangenen Planungsleistungen; zeitliche Staffelung des Baus der einzelnen Gebäude irrelevant bei fortbestehender Beschaffungsabsicht; Schwellenwertüberschreitung; Erklärung des geschlossenen Vertrags für unwirksam nach § 135 GWB

Jul 6, 2023 | Nachrichten, Rechtsprechung

2. Vergabekammer des Bundes VK 2 – 46/23 
 
 
Beschluss 
 
In dem Nachprüfungsverfahren 
 
[…]  
– Antragstellerin – 
 
Verfahrensbevollmächtigte:  
[…] 
   
 
gegen  
 
 
[…]  
– Antragsgegnerin – 
   
   
[…]  
– Beigeladene –  
 
Verfahrensbevollmächtigte:  
[…] 
   
 
 
wegen der Vergabe […] hat die 2. Vergabekammer des Bundes durch die Vorsitzende […] auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2023 am 6. Juli 2023 beschlossen: 
 
1. Es wird festgestellt, dass der zwischen Antragsgegnerin und Beigeladener am 11. Mai 2023 zum Vergabeverfahren […] geschlossene Vertrag über die Erbringung von […] von Anfang an unwirksam ist.  
2. Der Antragsgegnerin wird bei fortbestehender Vergabeabsicht aufgegeben, den Auftrag nur nach vorheriger Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen 
Union und nach Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens nach den Vorschriften des 4. Teils des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu vergeben.  
3. Antragsgegnerin und Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens (Gebühren und Auslagen) gesamtschuldnerisch.  
4. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin tragen Antragsgegnerin und Beigeladene je zur Hälfte. 
5. Die Zuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin war notwendig.  
 
Gründe: 
I. 
1. Die Antragsgegnerin (Ag) machte den oben genannten Auftrag national bekannt. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Die Bekanntmachung verwies u.a. auf das Formblatt 124, die Eigenerklärung zur Eignung, welches neben der Angabe der Umsätze der letzten drei Geschäftsjahre, soweit mit der zu vergebenden Leistung vergleichbare Leistungen betroffen waren, auch drei Referenzen für die Erbringung vergleichbarer Leistungen verlangte.  
 
Dem hiesigen streitgegenständlichen Auftrag vorangegangen war der Auftrag zur Entwurfsplanung von vier nahezu baugleichen […], darunter das Gebäude I, auf das sich die streitgegenständlichen Arbeiten beziehen. In der „Bekanntmachung vergebener Aufträge“ aus dem Jahr 2020 hieß es unter II.2.4) auszugsweise: 
„Projektkosten: 5,435 Mio EUR pro Gebäude –insgesamt 21,74 Mio. EUR (brutto) 
Projektdauer: U I Lph 3-4 bis 02/2020, Übergabe an Nutzer bis 09/2022 
U II Lph 3-4 bis 06/2020, Übergabe an Nutzer bis 01/2023 
U III+IV Lph 3-4 bis 12/2020, Übergabe an Nutzer bis 09/2023 
Der Umfang dieses Vergabeverfahrens beinhaltet die Leistungsphasen 3-4 mit dem Ergebnis der Erstellung einer Entwurfsunterlage Bau (EW-Bau) für den Neubau des […] I und in Wiederholung jeweils für die nahezu baugleichen […] II, III und IV. Die Grundlage bildet die genehmigte und haushaltsmäßig anerkannte ES-Bau für das […] I sowie die jeweilige Entscheidungsunterlage Teil I-IV. […] Für die […] liegt eine Ausbauplanung vor, welche die Errichtung von vier nahezu baugleichen […] mit einer Gesamtkapazität von 600 Plätzen vorsieht. Mit der Genehmigung und haushaltsmäßigen Anerkennung der ES-Bau für den Neubau des […] I, sollen nun alle vier […] umgesetzt werden. […] 
Die Neubauten der […] I und II sollen auf bereits freigemachten Baufeldern erstellt werden. Die Neubauten der […] III und IV werden als Ersatzneubauten für die bestehenden, abgängigen […] 5 und 6 errichtet.“ 
 
Antragstellerin (ASt) und Beigeladene (Bg) beteiligten sich am vorliegenden Vergabeverfahren betreffend […] an […] I durch die Einreichung von Angebotsunterlagen am Vergabeverfahren, wobei die Bg jedoch kein ausgefülltes Angebotsformular beifügte. Mit Schreiben vom 11. Mai 2023 teilte die Ag der ASt mit, dass auf ihr Angebot der Zuschlag nicht erteilt werden könne, da es nicht das wirtschaftlichste sei. Erfolgreicher Bieter sei die Bg.  
 
Mit Schreiben vom 16. Mai 2023 rügte die ASt über ihre damaligen Bevollmächtigten, dass die Bg mangels Eignung nicht für den Zuschlag in Betracht komme. Diese Rüge wies die Ag mit einem bei der ASt am 26. Mai 2023 eingegangenen Schreiben zurück und teilte mit, dass der Auftrag bereits am 11. Mai 2023 erteilt worden sei. 
 
Am 5. Juni 2023 rügte die ASt über ihre jetzigen Bevollmächtigten, dass die Auftragsvergabe nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam sei. Der Schwellenwert sei bei zutreffender Auftragswertschätzung überschritten, so dass eine europaweite Ausschreibung hätte stattfinden müssen. Das Absageschreiben genüge nicht den Anforderungen des § 134 GWB, insbesondere sei aufgrund der Erteilung des Zuschlags am Tag der Absendung des Absageschreibens die Wartezeit des § 134 Abs. 2 GWB nicht eingehalten und fehle auch die Angabe des frühesten Zeitpunkts des Vertragsschlusses. Auch fehle der Bg die geforderte Eignung.  
 
Mit Schreiben vom 7. Juni 2023 wies die Ag die Rüge zurück. Die Kostenschätzung für das 
[…] I habe im Zeitpunkt der Bekanntmachung rund 4,4 Mio. € netto betragen. Eine Gesamtbetrachtung aller vier Gebäude komme nicht in Betracht, da von Anfang an eine wirtschaftlich und zeitlich iterative Planung zugrunde gelegen habe. Die weiteren Einzelmaßnahmen ([…] II sowie III und IV) würden entsprechend der jeweils genehmigten Kosten EU-weit ausgeschrieben.  
 
2. Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 9. Juni 2023 stellt die ASt Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer. 
 
a) Der Antrag sei zulässig und begründet. 
 
aa) Insbesondere sei der für die Anwendung der §§ 97 ff. GWB maßgebliche Schwellenwert überschritten. Es spreche schon viel dafür, dass die Errichtung der vier Gebäude zusammen zu betrachten sei, diese bildeten eine funktionale Einheit. Der Neubau sei seitens der Ag als Gesamtprojekt geplant und solle in einem zeitlichen Zusammenhang stattfinden. 
Dass die einzelnen Maßnahmen zeitlich versetzt erfolgen sollten, stelle im Baubereich den Regelfall dar. Der Gesamtbetrachtung stehe nicht entgegen, dass die Finanzierung auf unterschiedliche Haushaltsjahre verteilt werde und ggf. unter Finanzierungsvorbehalt stehe. Soweit die Ag ausführe, dass keine funktionale Einheit zwischen den […] bestehe, sei es widersprüchlich, die Kostengruppen 200 („Herrichten und Erschließen“) und 500 („Außenanlagen“) in der Auftragswertschätzung nicht zu berücksichtigen mit der Begründung, dass die Planung und Verwirklichung dieser Leistung eine Betrachtung der gesamten Liegenschaftsinfrastruktur erfordere. Damit gehe die Ag doch von einem Bezug zwischen den […] aus. Es sei davon auszugehen, dass das […] ohne Erschließungsmaßnahmen für Energie- und Wasserversorgung nicht verwendbar sei.  
 
Auch wenn die Auftragswertschätzung für jedes der vier […] einzeln zu betrachten sei, werde der Schwellenwert erreicht. Zwar sei bei der Ausschreibung für die Planungsleistungen pro Gebäude ein Wert von rund 4,5 Mio. € netto geschätzt worden, allerdings seien hier die seit der Schätzung im Jahr 2020 massiv gestiegenen Baukosten (rund 35 %) zu berücksichtigen, so dass der Schwellenwert von 5.382.000 € überschritten werde. Die von der Ag angeblich angesetzte Preissteigerung von 4 % zwischen Kostenaufstellung aus dem Vergabeverfahren für die Planung und der Vergabe der Bauleistungen sei im Vergleich zu den vom statistischen Bundesamt veröffentlichten Preissteigerungen für Wohn- und Bürogebäude sowie gewerbliche Betriebsräume zu niedrig.  
 
bb) Der Antrag sei auch begründet. Aufgrund der Überschreitung des Schwellenwertes für Bauaufträge sei der Auftrag europaweit auszuschreiben gewesen. Sowohl die fehlende Bekanntmachung im Amtsblatt der EU als auch die Wahl der falschen Verfahrensart hätten dazu führen müssen, dass das Vergabeverfahren nicht mit einem Zuschlag beendet werde. Auch liege ein Verstoß gegen die Informations- und Wartepflicht des § 134 GWB vor. Das Absageschreiben vom 11. Mai 2023 enthalte nicht die Information über den frühesten Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Auch habe die Ag nicht die 15-tägige Wartefrist nach Erteilung der Information über den beabsichtigten Zuschlag beachtet.  
 
Schließlich fehle der Bg auch die erforderliche Eignung für den Auftrag und sei die Wertung der Angebote somit nicht vergaberechtskonform erfolgt. Da dem Angebot auch kein Angebotsformular beigelegen habe, sei dieses unvollständig und nicht zuschlagsfähig.  
 
Die ASt beantragt über ihre Verfahrensbevollmächtigten, 
1. ein Nachprüfungsverfahren gegen die Ag wegen der Vergabe eines Auftrags in dem Vergabeverfahren […] einzuleiten; 
2. festzustellen, dass der von der Ag mit der Bg mit Zuschlag vom 11.05.2023 geschlossene Vertrag über die Durchführung von […] im Rahmen der Baumaßnahme […] unwirksam ist; 
3. die Ag zu verpflichten, das Vergabeverfahren aufzuheben und die verfahrensgegenständlichen Leistungen bei Fortbestehen der Beschaffungsabsicht im Wege eines neuen Vergabeverfahrens zu vergeben; 
4. der Ag die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der ASt zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufzuerlegen; 
5. die Hinzuziehung der Bevollmächtigten der ASt für notwendig zu erklären. 
Weiter beantragt die ASt Einsicht in die Vergabeakten, insbesondere die Eignungsnachweise der Bg.  
 
b) Mit Schriftsatz vom 19. Juni 2023 beantragt die Ag, den Nachprüfungsantrag kostenpflichtig zurückzuweisen. 
 
aa) Der Nachprüfungsantrag sei unbegründet, da eine EU-weite Ausschreibung nicht geboten gewesen sei. Die geschätzten Gesamtbaukosten für das […] I hätten im Planungsstadium rund 4,6 Mio. €, im Zeitpunkt der Bekanntmachung rund 4,8 Mio. € netto betragen, womit der Schwellenwert gemäß § 106 Abs. 1 und 2 Nr. 1 GWB nicht erreicht sei. Die Kostenberechnung sei im Dezember 2021 aktualisiert worden, hier habe sich keine Kostensteigerung gegenüber den ursprünglich genehmigten Kosten ergeben.  
 
Die einzelnen […] bildeten auch keine funktionale Einheit, so dass Gegenstand der Auftragswertschätzung und der Ausschreibung zu Recht lediglich das […] I gewesen sei. Es sei auf die wirtschaftliche und technische Funktion des Ergebnisses der betreffenden Arbeiten abzustellen. Ein einheitlicher Auftrag sei nur dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermöge. Vorliegend sei ein technisch und wirtschaftlich getrennter Betrieb der einzelnen Gebäude möglich. Die […] verfügten jeweils über separate Zugangsbereiche und seien unabhängig voneinander nutzbar.  
 
Den Baumaßnahmen habe auch von Anfang an eine wirtschaftlich und zeitlich gestaffelte Planung und Verwirklichung zugrunde gelegen. Sie seien auch separat bei der Haushaltsplanung des Bundes veranschlagt. Die weiteren Einzelmaßnahmen ([…] II sowie III und IV) würden entsprechend der jeweils genehmigten Kosten EU-weit ausgeschrieben. Bereits im Planungsauftrag von 2016 werde der Neubau des […] I als separate Baumaßnahme bezeichnet. Zum Zeitpunkt der Erstellung der Ausführungsplanung als Vorbereitung für das […] I seien die Maßnahmen zum Neubau der übrigen Gebäude noch nicht anerkannt gewesen. Erst mit der […] Stand Januar 2023 sei die Anerkennung der Kosten für Gebäude II erfolgt. Eine Entscheidung für Gebäude III und IV stehe noch aus. Auch aus der Bekanntmachung der Planungsleistungen von 2020 ergebe sich nichts anderes. Die gemeinsame Vergabe der Planungsleistungen habe keinerlei Auswirkungen hinsichtlich der erst später geplanten Bauleistungen. Schließlich liege auch die tatsächliche Kostensteigerung im Vergleich zur ursprünglichen Kostenschätzung nur bei wenigen Prozent und werde der Schwellenwert für das Gebäude I nicht überschritten.  
 
Die Einbeziehung der Kostengruppen 200 und 500 komme nicht in Betracht. Die Planung und die Verwirklichung dieser Leistungen erforderten eine Betrachtung der gesamten Liegenschaftsinfrastruktur, um auch gebäudeübergreifende Aspekte einbeziehen zu können. 
 
Schließlich habe zwar […] ursprünglich einen grundsätzlichen Gesamtbeschaffungsbedarf über vier […] definiert. Der Auftraggeber habe allerdings das Recht zu entscheiden, ob, in welchem Umfang sowie in welchem zeitlichen Ablauf er den Bedarf decke. Dies könne von vielen Faktoren, u.a. der Finanzierung, abhängen. Eine geänderte Bedarfsentwicklung könne ebenso ein Faktor sein. Im Zeitpunkt der Vergabeentscheidung für Haus I sei völlig offen gewesen, in welchem Haushaltsjahr die weiteren bislang angedachten Vergabeentscheidungen verwirklicht würden. Es sei sogar offen gewesen, ob sie überhaupt und wenn ja in welcher genauen Ausprägung verwirklicht würden, dies gelte überwiegend bis heute.  
 
bb) Das Angebot der Bg sei trotz des fehlenden Angebotsschreibens wirksam und die Bg sei auch geeignet, den Auftrag auszuführen.  
 
c) Mit Beschluss vom 12. Juni 2023 ist die Bg zum Verfahren hinzugezogen worden. Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 14. Juni 2023 beantragt die Bg Akteneinsicht gemäß § 165 Abs. 1 GWB.  
 
aa) Das Verhalten der ASt sei widersprüchlich, soweit sie sich erst rügelos am Vergabeverfahren beteiligt habe und erst nach erfolgter Mitteilung der Zuschlagsabsicht auf das Angebot der Bg die Durchführung eines Vergabeverfahrens nach dem 1. Abschnitt der VOB/A gerügt habe.  
 
bb) Die Errichtung des […] I sei auch nicht Teil einer Gesamtbaumaßnahme. Dabei sei es hier belanglos, dass die Ag die Planungsleistungen für alle Gebäude in einem Auftrag ausgeschrieben habe. Dies sei im Hochbaubereich nicht unüblich, um damit die Grundlage für die Haushaltsunterlage Bau zu schaffen. Ein wirtschaftlicher Zusammenhang könne daraus nicht hergeleitet werden, insbesondere auch, da der Ag bislang noch nicht die Anerkennung der Kosten für alle vier Gebäude vorliege. Auch bestehe kein zwingender technischer Zusammenhang zwischen den […]. Das Gebäude I verfüge über eigene Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen und sei für sich genommen abgeschlossen und unabhängig von anderen Gebäuden zur […] nutzbar. Ein einheitlicher Auftrag sei nur dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermöge. Die einheitliche Zweckbestimmung sei kein relevantes Kriterium für die Prüfung eines wirtschaftlichen und technischen Funktionszusammenhanges. Gleiches gelte für die vorgelagerte Definition eines Beschaffungsbedarfes durch den Auftraggeber.  
 
cc) Auch der Auftragswert sei von der Ag korrekt ermittelt worden. Hier stehe dem Auftraggeber ein nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Die vorliegende Auftragswertschätzung werde den Anforderungen an eine pflichtgemäße und nach objektiven und realistischen Kriterien vollzogene Schätzung gemäß § 3 VgV gerecht. Die bereits vergebenen Gewerke könnten zum Beleg der Vertretbarkeit der Auftragswertschätzung herangezogen werden.  
 
dd) Das Angebot der Bg sei trotz fehlendem Angebotsschreiben wertbar. Die Bg habe ihre Eignung auch ordnungsgemäß nachgewiesen.  
 
3. ASt und Bg ist Akteneinsicht gewährt worden. Die Vergabekammer hat den Beteiligten einen 
Hinweis zur vorläufigen rechtlichen Würdigung des Sachverhaltes erteilt. In der mündlichen Verhandlung wurde die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten umfassend erörtert. Auf die Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten, die Vergabeakte der Ag, soweit sie der Kammer vorlag, sowie die Verfahrensakte wird Bezug genommen.  
 
II. 
Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet.  
 
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.  
 
a) Bei der Ag handelt es sich um einen dem Bund zuzurechnenden öffentlichen Auftraggeber.  
 
b) Der einschlägige Schwellenwert für die verpflichtende europaweite Bekanntmachung gem. § 106 Abs. 1 GWB ist überschritten. Dabei kommt es vorliegend nicht entscheidend darauf an, ob die Ag eine inhaltlich zutreffende Auftragswertschätzung für das […] I vorgenommen hat. Ausschlaggebend ist, dass die […] I bis IV für Zwecke der Auftragswertschätzung als Einheit anzusehen sind. In dieser gebotenen Gesamtbetrachtung ist der Schwellenwert in jedem Fall überschritten.  
 
Die Bestimmung des Auftragswertes gem. § 106 Abs. 1 GWB erfolgt vorliegend nach § 3 
VgV, der nach § 1 EU Abs. 2 S. 2 VOB/A auch für Bauvergaben Anwendung findet. Nach § 3 Abs. 1 VgV ist eine Schätzung vorzunehmen, die vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ausgeht. Dabei darf die Auftragsvergabe nicht so unterteilt werden, dass sie nicht in den Anwendungsbereich des GWB fällt, es sei denn, es liegen objektive Gründe dafür vor (§ 3 Abs. 2 S. 2 VgV). Für die Beurteilung, ob die Arbeiten an verschiedenen Bauaufträgen untereinander auf eine solche Weise verbunden sind, dass sie letztlich als Arbeiten an einem einheitlichen Bauwerk anzusehen sind, ist auf eine funktionale Betrachtung abzustellen und darauf, ob die verschiedenen Baumaßnahmen dieselbe wirtschaftliche und technische Funktion erfüllen (s. EuGH, Urteil vom 15. März 2012 – C574/10, juris-Rn. 37).  
 
Die Ag hat ursprünglich ihren, für die Auftragswertschätzung maßgeblichen, Bedarf hinsichtlich aller vier […] festgestellt (aa) und diesen auch nicht zwischenzeitlich reduziert (bb).  
 
aa) Vorliegend hat die Ag, ausweislich der Vergabe der Planungsleistungen, ihren Beschaffungsbedarf so definiert, dass sie auf der fraglichen Liegenschaft vier […] mit insgesamt 600 Plätzen benötigt. Dieser Beschaffungsbedarf ist im Ausgangspunkt heranzuziehen, denn er bildet die Grundlage des nachfolgenden Vergabeverfahrens und ist damit auch für die Schätzung der daraus entstehenden Kosten / des Auftragswertes maßgeblich. Aus der Bekanntmachung über den vergebenen Auftrag zur Planung der […] ergibt sich ausdrücklich, dass alle vier Gebäude umgesetzt werden sollen. Damit dient die Errichtung der vier […] einheitlich der Sicherstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten für 600 Personen auf derselben Liegenschaft und weist eine funktionelle Kontinuität über alle Einzelbaumaßnahmen hinweg auf. Gestützt wird diese Sicht durch die Ausführungen auf der öffentlich einsehbaren Internetpräsenz der Ag zur fraglichen Liegenschaft. Aus dieser ergibt sich, dass die dortige […] dient. Damit ist unmittelbar ersichtlich, dass anstelle der bereits abgerissenen bzw. abgängigen […] die Neubauten erforderlich werden, um die Funktion des […] in der angegebenen Dimension weiter sicherstellen zu können. Ein einzelnes […] könnte diesen Zweck aufgrund seiner beschränkten Kapazitäten nicht erreichen und ist daher als Teil der Gesamtausstattung des […] zusammen mit den anderen […] zu betrachten. Diese Einheitlichkeit ergibt sich auch aus weiteren Ausführungen der Ag, die u.a. die Kosten für die Erschließung und die Außenanlagen (Kostengruppen 200 und 500) des neuen Gebäudes nicht in dessen Auftragswertschätzung einbezogen hat, sondern insoweit eine Gesamtbetrachtung der Liegenschaft vornehmen möchte, um auch gebäudeübergreifende Aspekte einbeziehen zu können. Auch dies spricht gegen eine isolierte Funktion des […] I.  
 
Der Sache nach ähnelt das von der Ag gewählte Vorgehen hinsichtlich der vier nahezu identischen […] auch der Vergabe von Mengenlosen, mit denen der Gesamtbeschaffungsbedarf von 600 […] gedeckt werden soll. Diese Sichtweise verdeutlicht, dass auch das Argument, dass die vier geplanten […] technisch voneinander unabhängig seien und auch isoliert in vollem Umfang betriebsbereit seien, nicht entscheidend sein kann. Bei Mengenlosen ist es regelmäßig so, dass die einzelnen Beschaffungsgegenstände auch für sich alleine nutzbar sind. Ihre grundsätzliche Selbständigkeit ändert jedoch nichts an der gebotenen Gesamtbetrachtung der einzelnen Beschaffungsmaßnahmen. Dem steht auch nicht die im Nachprüfungsverfahren angeführte Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 12.  Juni 2019 – VII-Verg 52/18 entgegen. Dass diejenigen Bauabschnitte einer Gesamtbaumaßnahme als Einheit zu betrachten sind, die ohne die jeweils anderen Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen können (aaO, juris-Rn. 34), rechtfertigt nicht den Umkehrschluss, dass solche Maßnahmen, die auch isoliert eine sinnvolle Funktion erfüllen könnten, stets als eigenständiger Auftrag zu betrachten seien. Dies ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des OLG Schleswig vom 28. Januar 2021 – 54 Verg 6/20. Soweit dort (juris-Rn. 60) ausgeführt wird, die mögliche getrennte funktionale Nutzung führe zu der Annahme verschiedener Vorhaben, bezog sich die Entscheidung auf explizit unterschiedliche Gebäudetypen, nämlich ein Kongresszentrum und eine Messehalle, die im Übrigen auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten geplant wurden. Vorliegend hingegen wurde für einen Gesamtbedarf von 600 […] eine einheitliche Planung durchgeführt und lediglich die Umsetzung der Bauvorhaben zeitlich gestaffelt. 
 
bb) Eine Aufgabe des Beschaffungsvorhabens in Bezug auf die drei weiteren Gebäude, die dazu führen könnte, dass diese nicht in den Auftragswert zu addieren sind, ist nicht dokumentiert und auch sonst nicht ersichtlich.  
 
Eine solche Aufgabe der Beschaffungsabsicht folgt nicht aus möglichen Kapazitätsproblemen bei der Ag. Solche sind zwar nicht schriftsätzlich, jedoch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden. Dort hat sich die Ag, vertreten durch […], darauf berufen, dass der […] keine Kapazitäten habe, weitere Bauvorhaben als das derzeit zu errichtende […] I zu betreuen. Der […] habe dennoch keine Maßnahmen ergriffen, einen anderen Aufgabenträger mit der Durchführung der übrigen Vorhaben zu betrauen, so dass die Umsetzung der weiteren […] derzeit völlig unsicher sei. Diese rein tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Beschaffungsbedarfes stellen jedoch keine grundsätzliche Aufgabe des Beschaffungsvorhabens dar. Neben der insoweit klaren Darstellung in der Bekanntmachung über den vergebenen Planungsauftrag hat die Ag selbst schriftsätzlich auch im Nachprüfungsverfahren ausgeführt, dass die weiteren Bauvorhaben für die Häuser II bis IV europaweit ausgeschrieben würden. Damit steht eine gänzliche Aufgabe dieser Vorhaben gerade nicht in Rede. Auch im schon angesprochenen öffentlich zugänglichen Internetauftritt der Ag zur fraglichen Liegenschaft wird weiterhin beschrieben, dass […] für 550 Personen angeboten würden. Für eine erhebliche Reduzierung der Kapazitäten (auf bis zu ein Viertel) finden sich hier keine Hinweise.  
 
Eine Aufgabe der Beschaffungsabsicht folgt auch nicht aus der teilweise noch offenen Finanzierung der einzelnen Gebäude. Die von der Ag vorgelegten Übersichten zur Haushaltsplanung enthalten im Gegenteil die Kostenpositionen zur Ausführung sämtlicher vier Gebäude, auch wenn noch nicht sämtliche Finanzbedarfe anerkannt wurden. Unsicherheiten bezüglich der zukünftigen Bereitstellung von Haushaltsmitteln stehen der Annahme eines einheitlichen Beschaffungsgegenstandes nicht entgegen. Vergaberechtlich können sie z.B. durch die Teilung des Auftrages in unterschiedliche Lose berücksichtigt werden, wobei spätere Teillose unter dem Vorbehalt der Finanzierung ausgeschrieben werden können (vgl. 
EuGH, Urteil vom 15. März 2012 – C-574/10, juris-Rn. 46).  
 
c) Der bereits erfolgte Vertragsschluss mit der Bg steht dem Nachprüfungsantrag nicht entgegen. Grundsätzlich kann zwar gem. § 168 Abs. 2 GWB ein wirksam erteilter Zuschlag nicht von der Vergabekammer aufgehoben werden kann. Hier steht jedoch gerade die Unwirksamkeit des erteilten Zuschlages gem. § 135 Abs. 1 GWB in Frage. Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ist von dieser – als die Statthaftigkeit wie auch die Begründetheit des Nachprüfungsantrags betreffender und damit doppelrelevanter Tatsache – entsprechend dem Vortrag der ASt auszugehen, die sich auf einen Verstoß der Ag gegen die europaweite Bekanntmachungspflicht mit der Folge der schwebenden Wirksamkeit des geschlossenen Vertrags beruft.  
 
d) Die ASt ist antragsbefugt i.S.d. § 160 Abs. 2 GWB. Zwar konnte sich die ASt trotz der unterbliebenen europaweiten Bekanntmachung am Vergabeverfahren beteiligen. Ein Schaden i.S. einer Minderung ihrer Zuschlagschancen besteht jedoch darin, dass sie aufgrund der nur nationalen Vergabe nicht innerhalb der Wartefrist des § 134 Abs. 2 GWB die beabsichtigte Bezuschlagung des Angebotes der Bg hatte rügen können, die nach dem Vortrag der ASt u.a. mangels Eignung nicht für die Auftragsausführung in Betracht gekommen wäre.  
 
e) Der Nachprüfungsantrag ist fristgerecht eingereicht. Die Ag hat die ASt mit einem am 
26. Mai 2023 dort eingegangenen Schreiben darüber informiert, dass der Auftrag am 11. Mai 2023 an die Bg vergeben worden sei. Mit dem am 9. Juni 2023 bei der Vergabekammer eingegangenen Nachprüfungsantrag ist die 30-Tages-Frist des § 135 Abs. 2 S. 1 GWB gewahrt.  
 
f) Eine Rügeobliegenheit i.S.d. § 160 Abs. 3 GWB gilt nach dessen S. 2 nicht bei einem Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit eines ohne die gebotene europaweite Auftragsbekanntmachung vergebenen Auftrages nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Bieter vorher an dem (nationalen) Vergabeverfahren teilgenommen hat (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. April 2022 – VII-Verg 34/21). 
 
2. Der Nachprüfungsantrag ist begründet. Wie oben bereits dargestellt, ist der Schwellenwert für eine verpflichtende europaweite Bekanntmachung des Auftrages überschritten. Da der Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben worden ist, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet war, ist der Auftrag von Anfang an unwirksam, s. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht hat die Ag den Auftrag europaweit auszuschreiben. Auf die Eignung der Bg bzw. auf die Ausschlussbedürftigkeit ihres Angebots kommt es bei dieser Sachlage nicht mehr an. Die Bg hat im Fall eines europaweiten Vergabeverfahrens die Möglichkeit, ein neues, dann mangelfreies Angebot einzureichen.  
 
III. 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 Abs. 3 S. 1 und 2, Abs. 4 S. 1 und 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 VwVfG. 
 
Die Kosten des Verfahrens sind der Ag und der Bg gesamtschuldnerisch aufzuerlegen, da sie im Nachprüfungsverfahren unterliegen. Dabei ist hinsichtlich der Bg zu berücksichtigen, dass sie zwar keine expliziten Sachanträge gestellt hat, sich jedoch schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung zu den relevanten Fragen der Auftragswertschätzung und des Erfordernisses einer europaweiten Bekanntmachung eingelassen und sich dabei auf die Seite der Ag gestellt hat, deren Vorgehen die Bg verteidigte. Damit ist auch die Bg als in der Sache unterliegend anzusehen.  
 
Da Ag und Bg im Nachprüfungsverfahren unterliegen, haben sie die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der ASt zu tragen.  
 
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die ASt war notwendig, da das Nachprüfungsverfahren Rechtsfragen aufgeworfen hat, die ein durchschnittlicher Antragsteller ohne eigene Rechtsabteilung nicht sachgerecht beurteilen kann (vgl. BGH, Beschl. v. 26. September 2006 – X ZB 14/06, juris-Rn. 61). Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Bieterunternehmen das Vergaberecht nicht vertieft beherrschen muss, da dieses sich in erster Linie an öffentliche Auftraggeber richtet. Zu berücksichtigen ist ferner die komplexere Situation, die sich aus der Frage der Unwirksamkeit eines bereits erteilten Zuschlags ergibt.  
 
IV. 
Gegen die Entscheidung der Vergabekammer ist die sofortige Beschwerde zulässig. Sie ist innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen, die mit der Zustellung der Entscheidung beginnt, schriftlich beim Oberlandesgericht Düsseldorf – Vergabesenat – einzulegen.  
 
Die Beschwerdeschrift muss durch einen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. Dies gilt nicht für Beschwerden von juristischen Personen des öffentlichen Rechts. 
 
Die Beschwerde ist bei Gericht als elektronisches Dokument einzureichen. Dieses muss mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Dies gilt nicht für Anlagen, die vorbereitenden Schriftsätzen beigefügt sind. Ist die Übermittlung als elektronisches Dokument aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig.  
 
Die sofortige Beschwerde ist zugleich mit ihrer Einlegung zu begründen. Die Beschwerdebegründung muss die Erklärung enthalten, inwieweit die Entscheidung der Vergabekammer angefochten und eine abweichende Entscheidung beantragt wird, und die Tatsachen und Beweismittel angeben, auf die sich die Beschwerde stützt. 
 
Die sofortige Beschwerde hat aufschiebende Wirkung gegenüber der Entscheidung der Vergabekammer. Die aufschiebende Wirkung entfällt zwei Wochen nach Ablauf der Beschwerdefrist. Hat die Vergabekammer den Antrag auf Nachprüfung abgelehnt, so kann das Beschwerdegericht auf Antrag des Beschwerdeführers die aufschiebende Wirkung bis zur Entscheidung über die Beschwerde verlängern. 
 
[…] […]